Der Lischka-Prozess in Köln 1979/80 und seine Vorgeschichte
Retroaktive Justiz
Die Strafprozesse zu Verbrechen des Nationalsozialismus werden allgemein als NS-Prozesse bezeichnet. Im Fachdiskurs ist die Kurzform NSG-Verfahren üblich; im Alltagsdiskurs wird häufig der „Kriegsverbrecherprozesse“ genutzt. Völkerrechter wie Gerd Hankel und Gerhard Stuby sprechen auch von „Strafgerichten gegen Menschheitsverbrechen“.[1]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder auch „gegen die Menschheit“ („crimes against humanity“) wurden erstmals völkervertraglich festgelegt im Londoner Statut von 1945[2] und diente als Grundlage für die sogenannten Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes. Handelte es sich in Nürnberg noch um einen internationalen Militärgerichtshof, so besteht seit dem 1. Juli 2002 der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag als ständige Institution zur Verfolgung dieser Verbrechen. Am 9. Dezember 1948 beschloss zudem die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Resolution 260 A (III) die sogenannte Genozidkonvention[3], die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Das Genozidverbot ist heute eine zwingende Regel des Völkerrechts (ius cogens).[4]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Genozid“ und „Holocaust“ (Shoah) werden häufig als Synonyme verwendet. Bei den ersten beiden Begriffen handelt es sich jedoch um Rechtsbegriffe, die zugleich wissenschaftliche Kategorien sind. In der Geschichtswissenschaft werden die Begriffe „Holocaust“ und „Shoah“ für den von Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg verübten Völkermord an den Jüdinnen und Juden verwendet.
1945
Im Dezember 1945 erließen die Alliierten das Kontrollratsgesetz Nr. 10 auf dessen Grundlage die NS-Verbrechen auch rückwirkend verfolgt wurden.
Die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage war nicht nur eine justizielle, sondern auch eine philosophische und gesellschaftliche. So suchte der Philosoph Karl Jaspers bereits 1946 in seinem Buch „Die Schuldfrage“ Antworten auf eben diese.
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart nimmt ihre Tätigkeit auf. Von 1960 bis 1988 ermittelte die Zentrale Stelle im Frankreich-Komplex.
1958
Die Ermittlungen der Zentralen Stelle beruhten zu ihrer Anfangszeit vor allem auf Rechercheergebnissen des Regisseurs und Filmemachers Thomas Harlan.
Einrichtung der Zentralstellen im Land NRW zur Bearbeitung von Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Massenverbrechen bei den Staatsanwaltschaften Dortmund und Köln. Ziel ist die Bündelung der Ermittlungsverfahren bei zwei Staatsanwaltschaften.
Eichmann-Prozess in Jerusalem: Adolf Eichmann, Leiter des Judenreferats der Gestapo im Reichssicherheitshauptamt und Koordinator der Judendeportationen in die Konzentrations – und Vernichtungslager wird nach seiner Entführung aus Südamerika in Jerusalem nach einem ordentlichen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Strafprozess zum Vernichtungslager Sobibor vor dem Landgericht Hagen.
19.08.1964
Urteil zum Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main: 17 Angeklagte werden verurteilt, davon elf zu zeitigen Freiheitsstrafen und sechs zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Drei Angeklagte werden freigesprochen.
1964/1965
Strafprozess gegen das Personal des Vernichtungslagers Treblinka in Düsseldorf. Der letzte Lagerkommandant und zwei weitere Angeklagte erhalten lebenslange Freiheitsstrafen, fünf weitere Angeklagte werden zu Freiheitsstrafen zwischen drei und zwölf Jahren verurteilt.
1968-1970
Strafprozess gegen SS-Personal des KZ Sachsenhausen vor dem Landgericht Köln. Vier Angeklagte werden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, zwei zu zeitigen.
1970
Zweiter Treblinka-Prozess gegen den 1967 festgenommenen Kommandanten des Vernichtungslagers, Franz Stangl, der wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an mindestens 400.000 Juden zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wird.
1971
Im Bundestag versucht Ernst Achenbach (FDP) die Ratifizierung des Zusatzabkommens zu verhindern.
1971
Deutsch-französisches Zusatzabkommen. Das zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik abgeschlossene Abkommen, dessen Ratifizierung beantragt wird, beseitigt die Sperre des Überleitungsvertrages bei Verurteilungen in Abwesenheit des Angeklagten und ermöglicht die Strafverfolgung durch deutsche Gerichte.
1975-1981
Majdanek-Prozess gegen das Personal des KZs Lublin-Majdanek.
1979/1980
Letze Verjährungsdebatte im Bundestag. Strafprozess gegen Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn vor dem Landgericht in Köln.
1997
Zusammenlegung der Ermittlungsverfahren in NS-Sachen bei der Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft Dortmund.
1997
Antisemitische Ideologie und Strafverfolgung (Goldhagendebatte).
[1] G. Hankel, G. Stuby (Hrsg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Hamburg 1995.
[2] Zuvor waren nur „Kriegsverbrechen“ kodifiziert, als Verbrechen innerhalb von Kriegen gegen Kombattanten. Neu hinzu kamen nun „Verbrechen gegen den Frieden“. Darunter wurde Planung, Einleitung und Durchführung eines Angriffskriegs verstanden, sowie die Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung dazu. Als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden diejenigen Maßnahmen definiert, die sich abseits der Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung eines Landes richteten. Darunter fielen die Ermordung, Versklavung und Deportation von Zivilisten, Verfolgungen aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen.
[3] Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes; offiziell Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, CPPCG)
[4] Die Bundesrepublik Deutschland erklärte ihren Beitritt am 9. August 1954. Die Deutsche Demokratische Republik folgte am 27. März 1973.