Der Lischka Prozess

 

Fank Neubacher

Was hat die Justiz Verbrechensopfern zu bieten?

Ganz normale Menschen

Verbrechensopfer sind keine besondere Kategorie von Mensch. Weder dürsten sie nach Rache, noch sind sie von vornherein zur Versöhnung prädestiniert. Tatsächlich sind sie in ihren Reaktionen und Bedürf- nissen sehr unterschiedlich. Der anfäng- liche Wunsch nach Rache kann Teil eines Bewältigungsprozesses sein, der am Ende dazu führt, das schreckliche Erlebnis als unauslöschlichen Teil der eigenen Bio- grafie anzunehmen, ohne von ihm immer wieder aufs Neue überwältigt zu werden. Es gibt bemerkenswerte Persönlichkeiten, Frauen und Männer, die nahe Angehörige durch ein Verbrechen verloren haben, die dem Sinnlosen subjektiv einen Sinn abrin- gen, indem sie dazu beitragen wollen, dass eine solche Tat sich nicht wiederholt.Verbrechensopfer sind ganz normale Menschen – und trotz ihrer Viktimisie- rung bleiben sie das auch. Sie möchten gerne zuihrem vertrauten Leben zurück- finden (was häufig misslingt) und nicht auf den Status als Opfer reduziert werden. Weil diese Menschen in ihren Bedürfnissen so verschiedenartig sind, hilft man ihnen zunächst am besten dadurch, dass man ihnen zuhört. In der Regel wird von Dritten keine Erklärung für das Gesche- hene erwartet – und schon gar kein auf- munternder Spruch. Das Verbrechen, die Demütigung, der Vertrauensverlust lassen sich nicht einfach aus derWelt schaffen. Opfer leiden zusätzlich, wenn sie sich (was oft geschieht) unverstanden fühlen. Siehaben einen feinen Sinn dafür, ob ihnen jemand wirklich beistehen oder sich nur einer unangenehmen Situation entziehen will. Nichts zu sagen hilft dem Opfer nicht weiter – irgendetwas dahinzusagen scha- det sogar. Besonders kränkend ist esfür das Opfer, wenn es sich instrumentalisiert sieht. So erweisen Kriminalpolitiker den Hinterbliebenen von Ermordeten unter Umständen einen zweifelhaften Dienst, wenn sie ihnen einreden, die exemplari- sche Bestrafung des Täters, etwa durch seine Hinrichtung, werde für Gerechtigkeit sorgen und ihnen inneren Frieden verschaffen.

Wer ist Opfer?

Natürlich sind diejenigen, die unmittelbar durch ein Verbrechen verletzt oder geschädigt werden, Verbrechensopfer. Aber auch Familienangehörige, unter Umständen Hinterbliebene und nahestehende Personen werden in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Vertrauen in die Welt ist nicht weniger erschüttert als das des geliebten Menschen. Viele quält die Frage nach dem Warum und danach, ob sie ihn besser hätten beschützen können. Manche werden deshalb von Schuldgefühlen geplagt. Außerdem bleibt die eigene Beziehung zum Opfer nicht unangetastet, und zwar auf unabsehbare Zeit. Die Viktimisierungserfahrung kann Menschen verändern. Sie erleben die eigene Hilflosigkeit, Wut, Scham, Demütigung. Sie kämpfen um die Wiederherstellung des Ichs. Siesind mit der Aufarbeitung des Geschehenen beschäftigt, das sie sich und ihrem bisherigen Leben entfremdet hat.Unter Umstän- den ziehen sie sich von anderen Menschen zurück und verlieren das Interesse an liebgewonnen Gewohnheiten. Ihre Alltagsrollen, zum Beispiel als Vater oder Mut- ter oder als Partner, der bislang bestimmte Aufgaben übernommen hat, können sie dann nicht mehr ausfüllen.

Es wirft ein bedrückendes Schlaglicht auf die mangelnde Empathiefähigkeit in unserer Gesellschaft, dass das Wort „Opfer“ heute in der Jugendsprache Geringschätzung ausdrückt und sich abwertend auf Personenbezieht, die sich nicht zu helfen wissen bzw. für Attacken vorbestimmt scheinen. Es deutet aber auch auf das Ausmaß der Verletzlichkeit von Opfern hin. Diese stehen selbst nach der Tat in Gefahr, durch unangemesseneReaktionen ihres nahen und fernen sozialen Umfeldes weiter geschädigt zu werden. In der Viktimologie wirddas sekundäre Viktimi- sierung genannt, die auf die primäre Viktimisierung durch die Tat folgt.

Im klinischen Sinn ist der Opferbegriff weit zu fassen. Die International Classi- fication of Diseases der Weltgesundheitsorganisation verzeichnet im Abschnitt über Angst- und Verhaltensstörungen die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10 – F 43.1), die wie folgt definiert wird: „Die Betroffenen wareneinem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweif- lung auslösen würde.“ Bemerkenswert daran ist, dass nicht nur Verbrechensopfer, sondern auch Überlebende von Naturkatastrophen diese psychische Störung erlei- den können. In beiden Fällen sieht sich der Mensch einer existenziell bedrohlichen Situation gegenüber, die ihn in seinen Bewältigungsressourcen überfordert. Min- destens ebenso bemerkenswert ist die Aussage, wonach nahezu jeder dadurch in tief greifende Verzweiflung gestürzt würde. Das heißt nichts anderes, als dass ein Opfer mit einer posttraumatischen Belastungsstörung eine normale psychische Reaktion zeigt und nicht etwa die Überreaktion eines besonders Empfindsamen.

Die Zeit heilt keine Wunden

Die Wahrscheinlichkeit eines posttraumatischen Belastungssyndroms nimmt mit der Schwere des Erlittenen zu. Insofern wiegt das Unrecht eines von Menschen verübten Verbrechens schwerer als das Unglück einer Naturkatastrophe, für die niemand verantwortlich ist. Je gravierender und langandauernder das Geschehen, destogrößer die Schädigung und desto höher die Wahrscheinlichkeit eines chroni- schen Verlaufs der Belastungsstörung.

So unterschiedlich die Menschen und ihr Umgang mit schrecklichen Erlebnis- sen auch sein mögen, es gibt Übereinstimmungen in den Reaktionen. Sie sind im internationalen Klassifikationssystem als Hauptsymptome aufgeführt: Wiedererle- ben, Vermeideverhalten, Hypersensitivität. Die Menschen erleben das Geschehen, einschließlich des Gefühls von Bedrohung und totalem Ausgeliefertsein, gegen ihren Willen wieder, weil sie von bestimmten Bildern und Eindrücken überwältigt werden, zum Beispiel in Albträumen. Auch am Tage können die Erinnerungen jederzeit über sie hereinbrechen. Ausgelöst werden sie meist durch sinnliche Wahrnehmungen, die mit dem Geschehen verknüpft sind, z. B. Schreie, Brandgeruch, Ähnlichkeiten im Aussehen von Menschen. In der Folge vermeiden die Betroffenen Situationen, die sie an das Erlebte erinnern könnten. Oft leiden sie unter Schlaf- und Konzentrationsstö- rungen, sie sind schreckhaft, übermäßig wachsam oder reizbar. Zum Teil können sie sich an einzelne Aspekte der Belastungssituation nicht erinnern.

Das Leiden der Holocaust-Opfer war (und ist zum Teil immer noch) extrem, weil Bedrohungssituation und Kontrollverlust extrem waren. Der Prozess der sozi- alen Ausschließung, Demütigung und Entrechtung zog sichüber Jahre hin. Man stand einem Staat gegenüber, der das Verbrechen zur Politik erklärt hatte und das Unrecht systematisch verschleierte. Es gibt Überlebende des Holocaust, die zeitle- bens mit den Erlebnissen und ihrer Dehumanisierung nicht fertig wurden. Einige fühlten sich schuldig, weil sie überlebt hatten und andere nicht. Manche nahmen sich selbst Jahrzehnte später das Leben. Dehumanisierung ist ein Prozess, der über die Vernichtung der sozialen Existenz in die Vernichtung der physischen Existenz führt. Das Lager, jener „große Mechanismus“, der, wie es Primo Levi gesagt hat, „uns zu Tieren herabwürdigen soll“, verstrickt die Opfer auf perverse Weise in die- sen Prozess. Wer sich Bilder von Gefangenen in Konzentrationslagern vor Augen führt, sieht Menschen, die so zugerichtet wurden, dass siekaum noch als Menschen zu erkennen sind und deren Tötung – horribile dictu – dem Täter leichtfallen mag. Es steht vielleicht nur einem Überlebenden wie Levi zu, seine schrecklichen Beob- achtungen zu den verschiedenen Facetten der Dehumanisierung auszusprechen:

„Nun denke man sich einen Menschen, dem man, zusammen mit seinen Lie- ben, auch sein Heim, seineGewohnheiten, seine Kleidung und schließlich alles, buchstäblich alles nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschränkt auf Leid und Notdurft und verlustig seiner Würde und seines Urteilsvermögens, denn wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst; so sehr, daß man leichthin und ohne jede Regung verbindendenMenschentums, bestenfalls aber auf Grund reiner Zweckmäßigkeit über sein Leben und seinen Tod wird entscheiden können.“1

In einem bekannten Schlager singt Ray Charles „They say that time heals a broken heart but time has stoodstill since we’ve been apart“. Natürlich ist eine existenziell bedrohliche Viktimisierungserfahrung nicht mit einem gewöhnlichen Liebeskummer zu vergleichen.Dennoch drückt der Liedtext eine tief empfundene, leidvolle Erfahrung aus, die Verbrechensopfer kennen: Die Zeit steht still, das Leben ist wie eingefroren. Gefangen in einer Zeitschleife ist man dazu verdammt, immer wieder aufs Neue das schreckliche Geschehen zu erleben, ohne es begreifen zu kön- nen und ohne einen Ausweg zu sehen. In vielen Fällen bedürfen die Opfer einer psychologischen Betreuung. Ziel der Behandlung ist es, die Erinnerung an das traumatische Erlebnis, welches als übermächtig erfahren wird und zu Kontrollverlust führt, kontrolliert zuzulassen, um Erlebtes und Verdrängtes verarbeiten zu können. Die Zeit heilt also keine Wunden; allenfalls gibt sie den Raum, sie als zum eigenen Leben dazu gehörend zu akzeptieren und mit der Verwundung leben zu lernen.

Ein Beitrag der Justiz?

Gerichte können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Sie können auch nicht den Beistand geben, den nur Angehörige und Freunde zu leisten vermögen. Man wird von ihnen indes erwarten dürfen, dass sie ihrMöglichstes tun, um das Leid der Opfer nicht zu verstärken. Opfer mit schweren psychischen Tatfolgen wünschen sich in erster Linie Krisenintervention, persönliche Hilfe, Solidarität und normative Klarstellung.2 DasStrafrecht spielt insoweit zunächst eine untergeordnete Rolle. Auch wenn später, bei Inhaftierung des Täters, eine subjektive Genugtuungsfunktion von Strafe feststellbar ist, geht es diesen Opfern in der Regel weder um Rache noch um Vergeltung. Werden Straftatopfer in ihren Erwartungen durch ihr soziales Umfeld oder durch Angehörige von Polizei und Justiz enttäuscht, weil man ihnen beispielsweise keinen Glauben schenkt oder ihnen eine Mitschuld am Geschehen zuschreibt, so wird der Opferstatus verfestigt. Es handelt sich um eine sekundäreViktimisierung, deren Konsequenzen schwerwiegender sein können als die unmittelbaren Tatfolgen. In jedem Fall steigt dadurch das Risiko, dauerhaft unter einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden. Umgekehrt ist diese Störung weniger gravierend, je positiver das Opfer die interaktionale Gerechtigkeit im Strafverfahren einschätzt, also die Angemessenheit des Umgangs mit ihm. An diesem Punkt ist das Opfer aber nicht nur besonders verletzlich, es ist auch besonders gefährdet. Von Seiten des Täters droht ihm eine Verharmlosung oder gar Rechtfertigung der Tat, die das Opfer herabsetzt bzw. verantwortlich macht. Und selbst unbeteiligte Beobachter können der Versuchung erliegen, um die Erschütterung des Weltverständnisses durch dasVerbrechen rationalisierend zu verleugnen, den vorwurfsvollen Blick vom Täter auf das Opfer zu lenken („Mir wäre das nicht passiert“).

Aber können Gerichte, über diese Prävention sekundärer Viktimisierung hinaus, mehr leisten? Entsprechende Erwartungen, mit denen sich auch internationale Gerichtshöfe konfrontiert sehen, die mit derAufgabe betraut sind,   Völkerstraftaten und schwerste Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten, richten sich zum einen auf die Anerkennung des Opferstatus, zum anderen auf die Dokumentation durch richterliches Urteil. Was ist damit gemeint? Im Falle eines Schuldspruchs des Täters wird dem Opfer attestiert, dass ihm nicht ein zeitgeschichtliches Unglück widerfahren ist, sondern dass ihm Unrecht angetan wurde. Ein solcher Schuldspruch behält seine Bedeutung auch, wennein Täter seine Strafe nicht verbüßen muss, z. B. weil er alt oder krank ist. Das dient, im Sinne des Opfers wie auch der Gesellschaft, der Vermeidung von Folgeauseinandersetzungen; denn das Urteil kann künftigen geschichtsrevisionistischen Bestrebungen und allen Versuchen, das begangene Unrecht zu neutralisieren, entgegengehalten werden. Mit einem Strafverfahren wie z. B. dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, dessen Dokumen- tation 42 Buchbände füllt, werden Sachverhalte klargestellt. Tatopfer erhalten mög- licherweise erstmals die Gelegenheit, ihre Sicht des Geschehens der Öffentlichkeit vorzutragen und den Angeklagten gegenüberzutreten. Die Ermittlung der Tathintergründe und derjenigen, die die Verantwortung für das Verbrechen tragen, übernehmen für den Bewältigungsprozess des Tatopfers eine äußerst wichtige Rolle. Unter Umständen erfahren sie erst jetzt, wie ein Angehöriger zu Tode gekommen ist und wo sich sein Leichnam befindet. Nicht zuletzt wird der Täter durch dies traf rechtlichen Ermittlungen der Justiz aus der Anonymität des Systems hervorgeholt und büßt dadurch den Nimbus des übermächtigen Unbekannten ein.

Wem das abstrakt erscheint, möge es sich an der Praxis internationaler Straf- gerichtshöfe veranschaulichen. Können wir ermessen, was es den Mitarbeiterinnen des Vereins Mütter von Srebrenica bedeuten muss, dass sich Radovan Karadžić, der 2008, dreizehn Jahre nach den Verbrechen, verhaftet wurde, jetzt vor dem UN- Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien in Den Haag verantworten muss? Die Hinterbliebenen, die nicht selten alle männlichen Angehörigen ihrer Familien verloren haben, hoffen nicht auf eine Hinrichtung, die nach Völkerstrafrecht gar nicht zulässig wäre. Sie wollen endlich vor einer unabhängigen, mit Strafkompe- tenz ausgestatteten Instanz als Zeuginnen aussagen und daran mitwirken, dass die individuelle Verantwortlichkeit desAngeklagten freigelegt wird. Darauf warten sie – auch um ihrer selbst willen, denn sie meinen, damit eineSchuld gegenüber den Toten abzutragen.

Viktimologische Aspekte haben inzwischen den Weg zu den internationalen Strafgerichten gefunden. DasRom-Statut zur Errichtung eines ständigen Interna- tionalen Strafgerichtshofes in Den Haag, der seit 2002 für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig ist, sieht etwa geeignete Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit, des körperlichen und seelischen Wohls, der Würde und der Privatsphäre der Opfer und Zeugen vor. Zu diesem Zweck berät eine gesonderte Abteilung des Gerichtshofs für Opfer undZeugen den Ankläger und die Richter. Der Gerichtshof stellt ferner Grundsätze für die Wiedergutma-chung an den Opfern auf und kann Anordnungen erlassen, dass der Verurteilte Wiedergutmachungbzw. Entschädigung leistet oder dass das Opfer Leistungen            aus dem eigens eingerichteten Treuhandfonds für Opfer erhält. Erstmals hat der Opferschutz damit auf internationaler Ebene eine breitereRegelung erfahren, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein dürfte, dass ein menschenrechtlich und viktimologisch inspirierter Blick viel stärker im Vordergrund stand, als das bei den Nürnberger Prozessen der Fall war.

Opferschutzgesetzgebung in Deutschland

Deutschland hat den Prozess der Etablierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit nach dem Ende des Kalten Krieges aktiv unterstützt, sicher nicht zuletzt wegen seiner historischen Verantwortung. Auch wenn die strafrechtliche Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf der nationalen Ebene erst in den 1960er-Jahren – und damit spät, zu spät einsetzte, haben auch deutsche Strafgerichte mit dazu beigetragen, dass eine ernst- und glaubhafte Aufarbeitung der Vergangenheit erfolgen konnte. Nachdem die drohende Verjährung zunächst mehrfach aufgeschoben wurde, traten durch gesetzliche Änderungen 1969 die Unverjährbarkeit für Völkermord und 1979 auch jene für Mord ein. Das entsprach völkerrechtlichen Entwicklungen, denn in diese Richtung zielte bereits die Kon- vention der Vereinten Nationen über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom November 1968.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sind drei Entwicklungslinien auszumachen, die für die vorliegende Fragestellung weitreichende Folgen haben. Neben der nationalen Aufarbeitung des NS-Unrechts und dem Aufbau einer internationalen Strafgerichtsbarkeit fallen auch die gesetzgeberischen Maßnahmen zum Schutz vonVerbrechensopfern ins Auge. Diese sind ihrerseits kaum ohne die Etablierung der Viktimologie als Wissenschaftzu erklären, die in den 1970er-Jahren erfolgte und die die Aufmerksamkeit auf die Folgen der Straftat für dasOpfer und seine Bedürfnisse nach der Tat richtete.4 1979 wurde die World Society of Victimology gegründet, der zuerst der deutsche Kriminologe Hans Joachim Schneider vorstand. Vielleicht ist es nur Zufall (vielleicht aber auch nicht), dass mit Koichi Miyazawa aus Japan und Israel Drapkin aus Israel weitere bedeutende Viktimologenaus Ländern stammen, die mit den Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden, in besonderer Weise in Beziehung stehen. Es sind jedenfalls Erkenntnisse der Viktimo- logie, die die Opferschutzgesetzgebung der folgenden Jahre wissenschaftlich stütz- ten. Seither ist viel geschehen, mit Sicherheit ausreichend, um die Rede davon, es werde nicht genug für das Opfer getan, als unberechtigtes Pauschalurteil zu decou- vrieren. Nach dem Opferentschädigungsgesetz von 1976 folgte 1986 das ungleich bedeutendere Opferschutzgesetz. Es stärkte die verfahrensrechtliche Stellung des Opfers, das als Nebenkläger seither mit zahlreichen Beteiligungsrechten ausgestattet ist und sich eines Verletztenbeistands (Opferanwalts) bedienen kann. Mit dem Zeugenschutzgesetz wurde 1998 unter anderem die audiovisuelle Vernehmung von Zeu- gen ermöglicht, seit 2004 wurden wiederholt Verfahrens- und Informationsrechte ausgeweitet.Mit einer Nebenklage, die dem persönlichen Genugtuungs- und Restitutionsinteresse dient, schließt sich der durch die Straftat Verletzte der öffentlichen Klage der Staatsanwaltschaft an; hierdurch erlangt er u. a. das Recht, am gesamten Verfahren teilzunehmen sowie Fragen und Beweisanträge zu stellen. Seit 2007 ist die Nebenklage im Grundsatz auch im Jugendstrafverfahren zugelassen, 2009 wurde sie durch das 2. Opferrechtsreformgesetz erneut ausgeweitet. Es geht im Strafverfahren nicht einfach um „Täterschutz“ versus „Opferschutz“. Jenseits dieser verkürzenden Schlagworte muss es das Ziel sein, das Opfer dabei zu unterstützen, seinen Wegzurück in die Gesellschaft zu finden. Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend deut- lich geworden. Ob es um die Verstrickungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft oder gegenwärtig um den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Lehrer und Erzieher geht – was Opfer vor allem brauchen, ist das Signal derGesell- schaft, das ihnen ohne Abwehr sagt: Wir sind so weit, wir hören Euch zu.