Der Lischka Prozess
Acht Jahre dauerte es von den ersten Enthüllungen, mit denen Beate und Serge Klarsfeld den NS-Verbrecher Kurt Lischka aus dem Schutz kleinbürgerlicher Anonymität zerrten, und der Eröffnung des Prozesses gegen ihn und seine Mittäter Hagen und Heinrichsohn im Jahre 1979. Acht Jahre, in denen die Klarsfelds mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit für die ungesühnten Taten provozierten, in denen siePolitik und Justiz in Zugzwang brachten, in denen die strafrechtliche Ahndung des Genozids zu einem kritischen Thema der deutsch- französischen Beziehungen wurde und in denen sich – weit stärker als jemals zuvor – die jüdischen Opfer des Holocaust in Frankreich und ihre Nachkommen zu Wort meldeten.
Rückblickend kann man die Ereignisse dieser acht Jahre auf unterschiedliche Weise einordnen und kontextualisieren. Zweifellos fügen sie sich in die lange und unrühmliche Geschichte einer zögerlichen und verzögernden, inkonsequenten und unzureichenden Ahndung der NS- Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz ein. Auch nach den großen NS-Verfahren wie dem Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 und den Frankfurter Auschwitzprozessen der sechziger Jahre war eine energische Strafverfolgung derNS-Täter nicht selbstverständlich geworden. Das langjährige Desinteresse der Justiz an Lischka, Hagen und Heinrichsohn und ihre anfänglich recht schwerfällige Reaktion auf die Aufdeckungskampagne der französischen Juden standen in dieser Tradition. Man kann sie aber auch – gegenläufig – als die Geschichte eines Lern- und Sensibi- lisierungsprozesses erzählen, in dessen Verlauf nicht nur das öffentliche Inter- esse an den ungesühnten NS- Verbrechen und ihren Opfern zunahm, sondern auch Politik und Justiz eher bereit waren, die bislang unbehelligten Täter mit größerem Nachdruck zur Rechenschaft zu ziehen.
Dieser Sensibilisierungsprozess hatte unterschiedliche Ursachen: Ein beginnender Generationenwechsel in Politik, Justiz und Medien spielte ebenso eine Rolle wie der kritische „Zeitgeist“ der späten sechziger und siebziger Jahre. Große Bedeutung hatten die gewachsene mediale Aufmerksamkeit für das Thema und die geschickte Nutzung der Massenmedien durch diejenigen, die die Untätigkeit der Justiz und das politische Desinteresse an einer konsequenten Strafverfolgung anprangerten. Nicht zufällig starteten die Klarsfelds ihre Kampagne 1971 mit einem Filmbericht über die Enttarnung des unauffälligen Biedermanns Lischka. Das passt mit der allgemeinen Beobachtung zusammen, dass den Massenmedien während der siebziger Jahre mehr Gewicht beim politischen „agenda setting“ zukam – man denke an so unterschiedliche Ereignisse wie den legendären Stern-Titel zur Abtreibungsfrage von 1971 oder an die enorme Resonanz, auf die Ende der siebziger Jahre der mehrteilige Fernsehfilm Holocaust stieß. Insofern könnte man die achtjährige „Vorgeschichte“ des Lischka-Prozesses durchaus mit Gewinn aus einer mediengeschichtlichen Per- spektive erzählen. Sie ist aber auch die Geschichte zivilgesellschaftlichen Engage- ments und bürgerschaftlicher Zivilcourage. Es ist nicht despektierlich gemeint, wenn man Beate und Serge Klarsfeld als sehr erfolgreiche „Protestunternehmer“ bezeichnet, die es verstanden, mit provokativen Aktionen mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Behörden unter Handlungsdruck zu setzen und Solidarität für ihre Sache zu mobilisieren. Auch wenn natürlich die Ahndung der NS-Verbrechen eine ganz besondere politische, rechtliche und moralische Dimension hat, kann man die Provokations- und Medialisierungsstrategien der Klarsfelds durchaus mit denen der frühen Alice Schwarzer, mit Günter Wallraffs „Undercover“- Recherchen oder vielleicht auch mit denAktionen von Greenpeace vergleichen, die allesamt in den siebziger Jahren bekannt wurden und Erfolg hatten.
Angesichts der Vorgeschichte des Lischka-Prozesses verwundert es nicht, dass man an diesem Beispiel die Konfliktträchtigkeit des Umgangs mit der NS-Ver- gangenheit besonders gut verfolgen kann. Zeitgeschichte ist oft „Streitgeschichte“, gerade in Deutschland und besonders dann, wenn es um den Umgang mit der Hin-terlassenschaft der NS-Diktatur und um deren historische Einordnung geht. Auch die professionelleGeschichtswissenschaft kann sich der politisch-moralischen Aufladung und der anhaltenden Gegenwartsbedeutung dieser Vergangenheit nicht entziehen. Das ließ sich vor allem in den achtziger und neunziger Jahren an eini- gen sehr heftig ausgetragenen Zeitgeschichtskontroversen studieren. Die siebziger Jahre sind in dieser Hinsicht eine Übergangs- und Inkubationszeit, und es erscheint besonders interessant, danach zu fragen, wie sich die in diesem Buch behandelten Ereignisse in diesen Zusammenhang einordnenlassen. Soweit ich es übersehe, sind wenigstens fünf Aspekte aus der Perspektive des „Streits“ relevant:
Erstens handelte es sich bei der Auseinandersetzung um die strafrechtliche Verfolgung der Schreibtischtäterdes Holocaust im besetzten Frankreich um eine Kontroverse, die man anschließend an einen Begriff von Norbert Frei als „vergan- genheitspolitisch“ bezeichnen kann. Es ging um die konkrete Frage, wie mit den Tätern umgegangen werden soll. Nach Abschluss des Nürnberger Hauptkriegsver- brecherprozesses und seiner Nachfolgeprozesse sowie einer ersten Welle von Ver- fahren vor deutschen Gerichten war die rechtliche Ahndung der NS-Verbrechen ab Anfang der fünfziger Jahre weitgehend zum Erliegen gekommen. Wer der Justiz bis dahin entgangen war – aus welchen Gründen auch immer – blieb meist unbehelligt; viele andere kamen in den Genuss von Strafmilderungen und Amnestien. Erst Ende der fünfziger Jahre setzte eine Gegenbewegung ein: Es wurden neue Prozesse eröffnet, und die „unbewältigte Vergangenheit“ wurde zum geflügelten Wort. Die Aktivitäten von Beate und Serge Klarsfeld und der Fils et Filles des Déportés Juifs de France (F. F. D. J. F.) entfachten den Streit um die westdeutsche „Vergangenheits- politik“ Anfang der siebziger Jahre neu und förderten einen Stimmungswandel in Politik, Öffentlichkeit und Justiz, der die lange verbreitete „Schlussstrichmentalität“ delegitimierte. Dass noch 2011 ein Prozess gegen John Demjanjuk geführt wurde, ist auch diesem Mentalitätswandel zu verdanken.
Zweitens bedienten sich die Klarsfelds und ihre Unterstützer sehr erfolgreich eines Mittels, das durch die nordamerikanischen Bürgerrechtsaktivisten und die europäischen Protestbewegungen der sechziger Jahre populär gemacht, bis dahin aber noch nicht auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit angewandt worden war. Mit kalkulierten Regelverstößen machten sie ihr Anliegen öffentlich sichtbar und provozierten die Justiz zu Reaktionen, mit denen sich diese fast unvermeid- lich in ein moralisches Dilemma manövrierte und so immer wieder neue Anlässe für öffentlichkeitswirksame Proteste lieferte. Damit skandalisierten sie nicht nur die Untätigkeit von Politik und Justiz, sondern schärften auch insgesamt die Auf- merksamkeit für die„unbewältigte“ NS-Vergangenheit. In gewisser Weise gelang es ihnen, einen Justizskandal zu inszenieren,der zugleich als„Geschichtsskandal“ wahrgenommen wurde. Ihr Erfolg hing mit den Besonderheiten des Falles und dem hohen persönlichen Engagement der Beteiligten zusammen, ist aber zugleich ein Indiz dafür, dass sich der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Politik und Öffentlichkeit zu ändern begann. Die Affäre war der Vorbote einer ganzen Reihe von vergangenheits- und geschichtspolitischen Skandalen – erinnert sei an den Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger, der 1978 über seine Vergangenheit als Marinerichter stolperte, an die gefälschten Hitlertagebücher von 1983, an den Skandal um die deutsch-amerikanische Totenehrung auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg im Jahre 1985 und an die gescheiterte Rededes Bundestagspräsidenten Jenninger zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome im Jahre 1988. All diese Ereignisse machten wie die Ausschläge eines Seismografen die Reibungen und Konflikte sichtbar, die sich aus der wachsenden Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für die politische Kultur und die historische Identität der (West-)Deutschen ergaben.
Drittens bezogen die Auseinandersetzungen um die Ahndung der Verbrechen von Lischka, Hagen und Heinrichsohn ihre Brisanz aus der deutsch- französischen Konstellation, in der sie stattfanden. Auf der einen Seite ergaben sich hieraus rechtliche Besonderheiten, die eine Strafverfolgung erschwerten und die von interessierter Seite zur Verschleppung der Strafverfolgung genutzt wurden – die wichtigsten Stichworte lauten Überleitungsvertrag und Auslieferungsverbot. Auf der anderen Seite bekam der vergangenheitspolitische Konflikt dadurch eine nationale Tönung, dass sich die Proteste französischer Opfer und Opfervertreter gegen die Untätigkeit deutscher Gerichte bei der Ahndung der von Deutschen in Frankreich begangenen Verbrechen richteten. Es ist interessant zu beobachten, dass sich in der deutschen Kommentierung der Klarsfeld-Attacken wie der französischen Kommentierung. der deutschen Justiz einerseits nationale Argumente finden, andererseits aber auch auf eine übergreifende „europäische“ Werteordnung rekurriert wurde. Hier zeichnen sich Anfänge einer Wahrnehmungs- und Deutungsverschiebung ab, durch die der Holocaust vermehrt in seinen europäischen oder sogar globalen Kontexten thematisiert wurde. Es ist kein Zufall, dass die innerfranzösische Diskussion über die Kollaboration während des Vichy- Regimes in den folgenden Jahren an Intensität zunahm – auch hieran hatten die Klarsfelds ihren Anteil.
Eher am Rande hatte der Streit um den Kölner Prozess – viertens – eine deutsch-deutsche Dimension: Beate Klarsfeld ließ sich zeitweilig vor Gericht von dem DDR-Anwalt Friedrich Karl Kaul vertreten, der während der sechziger Jahre immer wieder als Vertreter der Nebenklage in bundesrepublikanischen NS-Verfahren tätig geworden war. Kaul galt lange Zeit als einer der Hauptkombattanten im „geschichtspolitischen Nahkampf“1 zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Wenn er bei westdeutschen NS-Prozessen auftrat, ging es immer auch darum, die Bundesrepublik als Hort alter Nazis zu entlarven und die DDR als leuchtendes Beispiel antifaschistischer Gesinnung zu präsentieren. Geschichtsdeutungen undvergangenheitspolitische Kampagnen waren scharfe Waffen der Systemauseinan- dersetzung, zumindest bis Ende der sechziger Jahre. Als die Auseinandersetzung um Lischka Anfang der siebziger Jahre in Gang kam, warder Höhepunkt dieser polemischen Geschichtskämpfe zwischen Ost und West allerdings überschritten. Die Entspannungs- und Normalisierungspolitik der sozialliberalen Koalition hatte ebenso dazu beigetragen wie die gewachsene Aufmerksamkeit der bundesrepubli- kanischen Öffentlichkeit für die „unbewältigte Vergangenheit“. Insofern ist es weni- ger bemerkenswert, dass Kaul zeitweilig eine kleine Rolle im Geschehen spielte, alsvielmehr die Tatsache, dass dies die Glaubwürdigkeit der Kampagne offenbar nicht nennenswert beeinträchtigte.Die Zeit, in der die Skandalisierung von NS-Tätern als kommunistische Wühlarbeit abqualifiziert werden konnte, war vorbei.
Fünftens hat die Auseinandersetzung um die strafrechtliche Ahndung der Deportationsverbrechen eine imengeren Sinne „geschichtspolitische“ Komponente, die über den strafrechtlichen Umgang mit den Tätern hinaus das historische Bild der NS-Vergangenheit betrifft. Bis weit in die siebziger Jahre hinein hatten weder die individuellen Täter noch die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen eine wichtige Rolle in der Geschichtsschreibung gespielt. Die Forschung hatte sich auf die politischen Hauptakteure,auf die Strukturen des Herrschaftssystems und die NS-Organisationen konzentriert. Der durch die „68er“ ausgelöste Boom „linker“ Geschichtsschreibung hatte hieran wenig geändert. Im Gegenteil: Die verschiede- nen „Faschismustheorien“, die für einige Jahre in Mode kamen, interessierten sich für abstrakte Analysen „bürgerlicher Herrschaft“, kaum dagegen für die Täter und Opfer. Im Lischka-Verfahren und in der Kampagne der Jahre zuvor rückten diese dagegen ins Zentrum des Interesses. Nicht nur, weil es um individuelle Taten und Täter ging, sondern auch deshalb, weil die Opfer und ihre Angehörigen massiv in die Öffentlichkeit drängten und der Geschichte ein Gesicht gaben. Wie wirksam dies das Bild der NS-Diktatur und des Holocaust beeinflusste, wird man kaum kon- kret bestimmen können. Aber die Perspektiven der Forschung verschoben sich seit den achtziger Jahren – weg von abstrakten Strukturen und Prozessen, hin zu individuellen Ereignissen, Taten, Tätern und Opfern, hin zur „Alltagsgeschichte“ des NS-Regimes und zur Geschichte der „ganz normalen Männer“, die den Holocaust zu verantworten hatten. Die Kölner Ereignisse lagen im Trend dieser Verschiebung und dürften sie verstärkt haben.
Aus der zeitlichen Distanz von fast vierzig Jahren lässt sich erkennen, welch große Bedeutung dieZivilcourage einzelner Personen – des Ehepaars Klarsfeld, ihrer Mitstreiter von den Fils et Filles des DéportésJuifs de France, des Staatsan- walts Holtfort – für die Initiierung und den Verlauf des Prozesses hatte. Man sieht aber auch, dass sich ihr Erfolg den spezifischen Umständen der siebziger Jahre ver- dankte: Die Ost-West-Entspannung machte es leichter, die ungesühnten NS-Ver- brechen jenseits stereotyper Vorwürfe und Abwehrreflexe in den Frontlinien des Kalten Krieges zu thematisieren. Der Politisierungs- und Mobilisierungsschub der späten sechziger und die „Neuen Sozialen Bewegungen“ der siebziger Jahre hatten die politische Kultur der Bundesrepublik verändert, neue Formen zivilgesellschaft- lichen Engagements und des Protests etabliert und die Empfänglichkeit staatlicher Instanzen für solche bürgerschaftlichen Aktivitäten erhöht.Konflikt, Streit und in Grenzen auch provokative Aktionen wurden viel eher als in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren als Teil der politischen Auseinandersetzung akzeptiert. Auch das Selbstverständnis und die Berichtspraxis von Teilen der Massenmedien hatte sich gewandelt. Und schließlich zeigt der Blick auf den weiteren historischen Kontext, dass die Kölner Ereignisse Teil einer konfliktreichen Verschiebung der geschichtspolitischen Parameter waren: Im Jahr der Prozesseröffnung lief der viel beachtete MehrteilerHolocaust durch die Dritten Programme des Fernsehens und wurde die Verjährungsfrist für Morddelikte endgültig aufgehoben. Sechs Jahre später hielt Bundespräsident von Weizsäcker seine Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, die heute nahezu kanonischen Status hat und als Standardtext der historisch-politischen Bildung gilt. Ein Jahr darauf tobte im westdeutschen Feuille- ton der „Historikerstreit“ um die historische Einordnung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen.Im Kölner Prozess ging es um Recht und Gerechtigkeit für die französischen Opfer des Holocaust. Der Kölner Prozess trug aber auch sein Teil dazu bei, dass die kritische „Internalisierung“ der NS-Vergangenheit2 ins Zentrum des historisch- politischen Bewusstsein der meisten Bundesbürger rückte.
Anmerkungen