Der Lischka Prozess

 

Lea Rosh erinnert sich an Bürgstadt

Lea Rosh wurde 1936 in Berlin geboren. Sie ist Journalistin, Publizistin und Unternehmerin. In den 1970er-Jahren moderierte sie als erste Frau das Politikmagazin Kennzeichen D. In den 1980er-Jahren wurde sie bekannt als Moderatorin der Talkshows 3 nach 9, Freitagnacht sowie Talk vor Mitternacht. In der jüngeren Vergangenheit machte Lea Rosh sich in Deutschland um das Gedenken an die Holocaust-Opfer verdient. 1981 regte sie ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas an und gründete einen Förderkreis zur Umsetzung dieser Vision. Dass dieses Holocaust-Mahnmal 2005 in Berlin eingeweiht wurde, ist also vor allem ihrer Initiative und ihrem Engagement zu verdanken. Ihr Engagement wurde am 13. September 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande gewürdigt. Heute betreibt Rosh eine PR-Agentur in Berlin, sie lädt einmal im Monat zu einem „Salon“ ein, ist Vorsitzende des Förderkreises Hans Otto Theater Potsdam und Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas e. V.

Als politisch engagierte Journalistin fuhr Rosh im Herbst 1979 für das Magazin Kennzeichen D nach Bürgstadt, wo der im Lischka-Prozess angeklagte NS-Verbrecher Heinrichsohn Bürgermeister war. Sie befragte die Bürger des Ortes nach ihrer Haltung zu ihrem Bürgermeister und dessen Vergangenheit. Die Ausstrahlung des Beitrags im Fernsehen erzeugte große Aufmerksamkeit für den Lischka-Prozess. Damit gehört Lea Rosh also zu den Akteuren, die sich in den 1970er-Jahren dafür einsetzten, über straflos gebliebene NS-Verbrecher aufzuklären. Sie trug dazu bei, dass sich Ende der 1970er-Jahre ein Wandel in der deutschen Erinnerung an den Holocaust vollzog. Im Frühjahr 2011 besuchte Judith Weißhaar Lea Rosh in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg und unterhielt sich mit ihr über ihre Erinnerungen an den Bericht aus Bürgstadt.

Weißhaar: Frau Rosh, Sie arbeiteten seit spätestens 1961 als Journalistin. Welche Motive leiteten Sie bei der Wahl dieses Berufs?

Rosh: Ich meinte damals etwas verwegen, ich könnte in diesem Beruf zur Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit beitragen, und ich dachte, durch diese Aufklärung könne man vielleicht eine Wiederholung der Geschichte verhindern. Das waren also meine Motive, warum ich in diesen Beruf gegangen bin. Dabei hatte ich lange überlegt, ob ich Schauspielerin werden sollte, weil das in meiner Familie eine gewisse Tradition hat: Mein Großvater war Sänger und ein Onkel war Schauspieler. Ich hatte sogar privaten Schauspielunterricht. Meine Mutter hatte zwar nicht sehr viel Geld, aber die Lehrerin meinte, ich sei sehr begabt. Aber das war mir dann doch nicht politisch genug, und so habe ich mich für den Beruf der Journalistin entschieden.

Weißhaar: 1973 waren Sie Moderatorin der Sendung Ratgeber Technik. Das klingt noch nicht sehr politisch …

Rosh: Wir haben dort sehr wohl kritische Beiträge gemacht, vor allem über die Industrie. Wir haben zum Beispiel die Verbraucher vor bestimmten Geräten gewarnt. Damit waren wir so unbequem, dass gegen uns sogar Prozesse geführt wurden. Aber selbstverständlich handelte es sich hierbei nicht um hochbrisante politische Themen. Deswegen bin ich dort auch nicht so lange geblieben.

Weißhaar: Als Sie geboren wurden, herrschte die nationalsozialistische Diktatur bereits seit drei Jahren. Wie haben Sie und Ihre Familie die Zeit des Nationalsozialismus erlebt?

Rosh: Meine Mutter ist jüdischer Abstammung, und so habe ich Entsprechendes erlebt. Zum Beispiel hörte ich auf dem Markt: „Dir Judensau verkaufen wir nichts.“ Ich hab gefragt: „Mami, was ist eine Judensau?“ Und dann ist meine Mutter schnell mit mir nach Hause gegangen und hat irgendetwas erzählt. Was die sogenannte nichtarische Abstammung meiner Mutter bedeutete, war mir natürlich als sechsjähriges Mädchen nicht klar. Mein Vater ist trotz der „nichtarischen Abstammung“ meiner Mutter zur Wehrmacht eingezogen worden. Er ist nie in die Partei eingetreten. Da hat er sich geweigert. Er hat gesagt, er würde Brandbomben löschen, wenn die Alliierten solche abwerfen würden. Aber er würde nicht in die Partei gehen. Als Wehrmachtssoldat ist er in den letzten Kriegstagen in der Nähe von Krakau – ich sage mal Auschwitz – umgekommen. Ich habe diesen Ort später bei Dreharbeiten über Auschwitz besucht. Und dort habe ich einen großen Betonblock mit Panzern darauf gesehen. Einer vom Typ T34. Und auf diesem war die Einheit meines Vaters eingraviert und dass die Einheit dort aufgerieben worden sei.

Wir hatten in unserer Straße in Schmargendorf eine Frau, NSDAP-Mitglied, die meine Mutter sehr schätzte. Die kam vier Mal und sagte: „Frau Rosh, da ist wieder mal was gegen Sie im Gange. Ich besorge Ihnen eine Evakuierung, mit den vier Kindern.“ So wurden wir vier Mal evakuiert. Nach Königsberg, nach Hoyerswerda, nach Grube Erika und schließlich nach Genthin. In Genthin blieben wir bis zum 8. Mai 1945. Meine Mutter hat diese Frau später bei der Entnazifizierung entlastet. Während unserer Evakuierung war unsere Wohnung einer Nazi-Frau zugeteilt worden. Als wir aus Genthin zurückkamen, wohnte diese Frau in unserer Wohnung. Wir standen mit unseren Möbeln auf dem Rasen vor dem Haus, sie sah aus dem Fenster und sagte zu meiner Mutter: „Nun wohne ich halt in der Wohnung.“ Meine Mutter ging zu irgendeiner staatlichen Stelle und bestand darauf, dass wir die Wohnung zurückbekämen. Mit dem Hinweis, dass die Zeit wohl vorbei sei, in der Juden von Nazis aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Das Ergebnis war, dass die Frau samt ihrer Tochter raus musste aus der Wohnung und wir wieder einziehen konnten.

Weißhaar: Was hat Sie politisiert?

Rosh: Ich habe zwar erlebt, wie meine Mutter wegen ihrer jüdischen Abstammung diskriminiert und schlecht behandelt wurde. Die Tragweite dieser Erlebnisse ist mir aber erst viel später klar geworden. Politik hat mich als junge Frau einfach interessiert. Deswegen habe ich Geschichte studiert. Die Zeit des Nationalsozialismus stand nicht von Beginn im Zentrum meines Interesses. Aber wenn man sich mit der Geschichte beschäftigt, dann ist der Nationalsozialismus eben Teil der faszinierenden deutschen Geschichte. Ein Teil der schlimmsten Art.

Als Journalistin wollte ich politisch arbeiten. Zunächst war ich beim RIAS und habe da sehr viele Sendungen gemacht. Dann wollte ich lieber moderieren und bin in den 1970er-Jahren zu Kennzeichen D gekommen. Mein dortiger Chef war Hanns Werner Schwarze, ein hervorragender Studioleiter und Moderator. Dort begann ich damit, politische Themen zu bearbeiten.

Weißhaar: Wie kam es dazu, dass Sie 1979 mit der Kamera nach Bürgstadt gefahren sind?

Rosh: Eines Tages kam Hanns Werner Schwarze zu mir und sagte „Fahr mal nach Bürgstadt. Da gibt es einen Bürgermeister, der war verantwortlich für die Deportation der jüdischen Kinder aus Frankreich.“ Zunächst sagte ich: „Lieber nicht. Wenn ich dort mit meiner Nase und meinem jüdischen Namen hinfahre, bekomme ich überhaupt keine Auskünfte. Das kann ich mir sparen.“ Ich bin dann aber doch hingefahren.

Weißhaar: Hatten Sie sich bereits zuvor als Journalistin mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandergesetzt?

Rosh: Ich hatte für Kennzeichen D schon einen Bericht über die Wiedergründung der NSDAP in Berlin gemacht. Und ich habe etwas über den Rehse-Prozess gemacht. Hans-Joachim Rehse war Richter am Volksgerichtshof während des Nationalsozialismus. Er wurde zwar verurteilt, ist aber „natürlich“ hinterher freigesprochen worden. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt also bereits eine Reihe politischer Themen bearbeitet. Mein Spektrum umfasste auch Themen wie die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Ich schien für Hanns Werner Schwarze die geeignete Person zu sein, um den Beitrag über Bürgstadt zu drehen.

Weißhaar: Wurde die Planung des Beitrages im Vorfeld kontrovers diskutiert?

Rosh: Nein. Ich habe entschieden, wie der Beitrag gemacht wird. Ich bin nach Bürgstadt gefahren und hatte das Glück, dass ich dort einen Mann getroffen habe – einen Apotheker. Dieser war SPD-Mitglied und so ein ganz aufrechter Mensch. Der hat mir erzählt, wer in Bürgstadt wer war, und hat Kontakte zu Menschen im Ort hergestellt. Und dann haben wir uns bei den Menschen gemeldet. Mal haben wir Interviewtermine bekommen, mal nicht. Wir haben die Interviews gedreht und mit diesem Material bin ich dann zurückgefahren und habe mich in den Schneideraum gesetzt. Über die Machart habe ich vorher mit niemandem diskutiert. Dann hat Hanns Werner Schwarze den Beitrag bekommen. Ihm haben das Material und der Beitrag, den ich daraus gemacht habe, sehr gefallen.

Weißhaar: Wie hatten Sie sich die Reaktionen der Bürgstädter Bürger im Vorfeld vorgestellt? Waren Sie von ihren Reaktionen erschreckt?

Rosh: Die Doofheit der Leute, ihre politische Ignoranz haben mich schon entsetzt. Unter den Bürgstädtern war ein Lehrer, der besonders schrecklich war. Und ich musste die ganze Zeit daran denken, welch schlechtes Beispiel dieser Lehrer für seine Schüler war. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir in Bürgstadt ignorante und willfährige Leute getroffen und eine Art von Unterwürfigkeit erlebt, die mich erstaunt hat. Um den Gesamteindruck des Dorfes wiederzugeben, habe ich eine Montage aus Bildern des Dorfes gemacht und diese zwischen die Interviews geschnitten.

Weißhaar: Haben Sie mit Ihrem Beitrag ganz bewusst einen Skandal initiiert?

Rosh: Natürlich!

Weißhaar: Der Beitrag bei Kennzeichen D zog ein 45-minütiges Fernsehfeature über den Prozess in Köln nach sich …

Rosh: Nach der Ausstrahlung bekam ich einen Anruf vom Chefredakteur des ZDF, Horst Schättle. Dieser fand den Beitrag so eindrucksvoll, dass er in Abstimmung mit Hanns Werner Schwarze einen Bericht über den Prozess von mir haben wollte. Ich habe daraufhin mit einem Kollegen zusammengearbeitet, der häufig in Paris war. Er hat die französischen Juden auf ihrer Eisenbahnfahrt von Paris nach Köln zum Prozess begleitet und interviewt. Ich bin wieder nach Bürgstadt gefahren und habe dort weitere Impressionen eingefangen. Und später bin ich nach Köln zum Prozess gefahren. Ich habe mich mit vielen Franzosen sehr verbunden gefühlt und mich auch mit einigen angefreundet. So war ich dann bei der Urteilsverkündung in Köln im Gerichtssaal dabei. Ich wollte die Franzosen in diesem Moment nicht allein lassen. Dort habe ich wahnsinnig anrührende Szenen erlebt.

Zur gleichen Zeit hat ein ganz toller Kameramann für mich die Reaktionen auf die Urteilsverkündung in Bürgstadt gedreht. Nachdem das Urteil abends in den Nachrichten bekannt gegeben worden war, ist er dort in eine Kneipe gegangen, wo er fast verprügelt worden wäre. Ich hatte ihm zuvor gesagt, dass er nicht sagen sollte, für welchen Zweck er dreht. Am Ende hat er es geschafft, die Reaktionen in der Kneipe mit der Kamera einzufangen.

Weißhaar: Sie produzierten noch eine weitere Dokumentation für das ZDF?

Rosh: Nach dem Prozess haben wir die Franzosen und die Leute aus Bürgstadt an einen Tisch gesetzt. Das war eine dramatische Geschichte. Ich musste die Franzosen dazu überreden. Für die Franzosen waren die Bürgstädter ja die Täter. Die in Köln Verurteilten waren bei dem Gespräch natürlich nicht dabei, aber die Leute aus Bürgstadt. Wir hatten für das Gespräch einen langen Tisch in einem Hotel vorbereitet. Auf der einen Seite die Franzosen, auf der anderen Seite die Bürgstädter, die nicht begeistert waren von diesem ganzen Projekt. Aber wir hatten sie überreden können mitzumachen. Den Bürgstädtern hatte ich gesagt, dass sie ihre Position vertreten sollten, und den Franzosen hatte ich gesagt, dass sie den Bürgstädtern einfach nur ihre Seelenlage und ihre Schmerzen klarmachen müssten. Dann aber ging das Tonbandgerät kaputt. Es war ein Sonntag, und das ZDF und dessen Studios waren nicht besetzt. Je länger diese Situation dauerte, umso nervöser wurde ich. Derweil verließen die Franzosen und die Bürgstädter das Hotel, um ein bisschen spazieren zu gehen. Ich habe den Franzosen eingebläut, dass sie, bevor das offizielle Gespräch nicht begonnen hätte, nicht mit den Deutschen reden sollten. Aber das war fast gar nicht zu vermeiden. Ich habe den Franzosen gesagt: „Wenn ihr jetzt anfangt, freundlich mit denen zu reden, dann können wir diesen Film vergessen.“ So rannten mein Kollege und ich andauernd hin und her und telefonierten. Am späten Nachmittag bekamen wir dann endlich ein Ersatzgerät und konnten das Gespräch drehen. Aber bei den Franzosen hatte sich so viel Kummer und Schmerz aufgestaut, dass es ein haariges Gespräch wurde zwischen diesen beiden Parteien. Die Bürgstädter sagten die ganze Zeit: „Heinrichsohn ist unschuldig.“ Ich werde nie vergessen, wie ein Franzose, Henry, sagte: „Gebt mir meine Eltern zurück. Gebt mir meine Eltern zurück.“ Für mich war es unglaublich, dass die Bürgstädter fortwährend sagten: „Sie sind unschuldig.“ Die waren ja nicht unschuldig: Heinrichsohn, Lischka und Hagen. In dieser aufgeregten Stimmung verlief das ganze Gespräch.

Weißhaar: Keiner der Bürgstädter machte in diesem Gespräch eine Entwicklung?

Rosh: Nein. Das ist überhaupt eine Erkenntnis, die man macht, wenn man sich mit diesem Thema befasst. Die Täter bleiben Täter, ihre Unterstützer bleiben Unterstützer. Die sind ohne Reue, ohne Schuldbewusstsein. Und ich glaube auch nicht, dass das gespielt ist. Das ist einfach deren Meinung: „Juden sind was Schlechtes, Juden müssen weg. Das war unser Befehl.“ Ich glaube auch, dass sie wirklich nicht einsichtig sind. Und sie sind mitleidlos.

Weißhaar: Auch die Bürgstädter haben das so gesehen?

Weißhaar: Frau Rosh, als Sie in Bürgstadt ankamen, begegnete Ihnen eine Schulklasse mit ihrer Lehrerin. Was haben Sie dort erlebt?

Rosh: In Bürgstadt kam mir eine Schulklasse entgegen mit ihrer Lehrerin. Eine blonde Lehrerin mit Kindern. Und die Kinder waren ungefähr so alt wie die Kinder, die Heinrichsohn nach Drancy und dann nach Auschwitz hatte deportieren lassen. Als ich sie auf Heinrichsohn ansprach, verteidigte sie ihn. Er sei Bürgstadts Bürgermeister und ein wunderbarer Mann. Dann habe ich die Lehrerin darauf hingewiesen, dass die Kinder, die Heinrichsohn deportiert hatte, genauso alt waren wie die Kinder, mit denen sie unterwegs war. Ich habe sie gefragt, ob ihr nicht die Idee komme, was für ein Verbrechen Heinrichsohn begangen hatte. Aber auch das hat sie nicht zum Nachdenken gebracht. Sie blieb dabei: „Heinrichsohn ist unser Mann.“ Mit den Bürgstädtern war nicht zu reden. Teilweise haben sie sogar aggressiv reagiert. Sie sind auf den Kameramann und mich auch losgegangen und haben dem Kameramann die Kamera ins Gesicht gedrückt. Wir waren als Journalisten solche Reaktionen gewöhnt, es hat uns nichts ausgemacht. Aber dieses Verhalten zeigt, welche Einstellung die Leute hatten. Da war gar nichts zu machen.

Weißhaar: Hatten Sie Angst in dieser Situation?

Rosh: Ach Quatsch, der Kameramann war doch auch noch da. Und wissen Sie, ich war ja moralisch im Recht. Wir waren doch so im Recht. Ich hatte keine Angst. Ich habe später mit einer anderen Kollegin einen Film über einen NPD-Parteitag gemacht. Und vor diesen Typen hatte ich ein bisschen Angst. Weil ich mir vorgestellt habe, was passiert, wenn die einem auflauern. Und wenn zwei Männer einen zusammenschlagen, dann kennen die keine Gnade! Es ist aber nichts Derartiges passiert. Sie haben mir nur später in Berlin die Autoreifen aufgeschlitzt und morgens um fünf Uhr bei mir angerufen und gesagt: „Dich haben wir vergessen zu vergasen.“ Es gab mehrere solcher Geschichten. Aber in Bürgstadt hatte ich keine Angst. Ich war ja mit fünf Kollegen dort: Kameramann, Assistent, Toningenieur, ein weiterer Journalist und ich.

Weißhaar: Waren Sie von den Reaktionen der Bürgstädter Bürger enttäuscht? Hatten Sie auf Einsicht gehofft?

Rosh: Nein. Ich hatte ja zuvor mit dem Apotheker gesprochen und wusste daher, was auf mich zukommt. Ich hatte zwar gehofft, dass der eine oder andere ein bisschen einsichtig sein könnte und möglicherweise sagen würde: Es war ein Verbrechen, die Kinder zu deportieren.

Weißhaar: Welche Wirkung hatte der Beitrag bei Kennzeichen D?

Rosh: Wir bekamen Anrufe und sehr viel Post. Wir bekamen viel Zustimmung und viel Ablehnung. Hanns Werner Schwarze saß nach der Ausstrahlung immer am Telefon und wir um ihn herum. Die alten Nazis, die nach der Sendung bei uns anriefen, beschimpften uns. Dann legte Hanns Werner Schwarze den Telefonhörer einfach immer auf. Ich fand es sehr erfrischend, dass er Anrufer, die mich oder uns beschimpften, am Telefon zurechtgewiesen hat. So sagte er beispielsweise einmal: „Hören Sie mal, belästigen Sie mich nicht weiter mit Ihren Anrufen!“ und knallte den Hörer auf. Ich sagte dann, dass er doch als Studioleiter nicht so abweisend sein könne. Aber er entgegnete, dass er so was Dummes nur grob zurückweisen könne. Nach der Feature-Sendung haben wir massenhaft Post bekommen. Von den alten Wehrmachtsoffizieren und -soldaten nur Beschimpfungen. Andere Zuschauer fanden, dass die Aufklärung gut gemacht war. Ich glaube, dass man in diesem Land niemanden bekehren kann.

Weißhaar: Würden Sie denn sagen, dass Sie 1979 Aufklärungsarbeit geleistet haben?

Rosh: Mit unseren Beiträgen über den Lischka-Prozess haben wir die Zuschauer informiert. Wir haben den Bericht aus Bürgstadt gezeigt, das Feature über den Lischka-Prozess und ein Interview der BBC, in dem Heinrichsohn nach seinen Taten in Frankreich befragt wird. In diesem Interview hat Heinrichsohn alles abgestritten. Er habe gar nichts gewusst und sei unschuldig. Wir konnten die Zuschauer darüber aufklären, dass das reine Lüge war. Aber wie nachhaltig eine solche Aufklärung ist, das ist sehr schwer festzustellen. Es war richtig, dass wir als Fernsehmagazin diese aufklärerischen Berichte gemacht haben.

Weißhaar: Inwiefern standen Sie 1979 mit anderen politisch aktiven Privat-/Einzelpersonen in Kontakt? Beispielsweise mit Beate Klarsfeld, Thomas Harlan oder Günther Ginzel. Haben Sie sich gegenseitig wahrgenommen?

Rosh: Gar nicht. Ich war bei Kennzeichen D, und da haben wir unsere Sachen gemacht. Dadurch, dass Kennzeichen D alle vier Wochen lief, war ich dort sehr eingespannt. Allerdings datiert aus dieser Zeit meine sehr gute Bekanntschaft mit dem Ehepaar Klarsfeld. Beate Klarsfeld ist ja Mitglied bei uns im Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas und kommt auch ab und an zu den Mitgliederversammlungen. Der Kontakt mit Beate Klarsfeld blieb also. Ich fand es auch toll, dass sie Kiesinger geohrfeigt hatte. Vor den Aktionen, die sie mit Serge Klarsfeld gemacht hat, habe ich Hochachtung. Als die Klarsfelds die Aktionen in den Bahnhöfen gemacht haben, habe ich ihr geholfen.

Weißhaar: Wie schätzen Sie den Lischka-Prozess im Verhältnis zu anderen NS-Prozessen ein? Welche Rolle spielte er in der Geschichte der NS-Prozesse?

Rosh: Der Prozess war ungewöhnlich kurz, weil die Aktenlage klar war. Es gab die gute Vorarbeit von Serge Klarsfeld. Und der Richter war eine große Ausnahme, weil er die Täter verurteilt hat. Das Strafmaß fand ich allerdings zu gering: Sechs Jahre nur für Heinrichsohn, der außerdem nach drei Jahren freigekommen ist. Das fand ich besonders empörend. Die Begründung lautete, er könne nicht rückfällig werden. Das fand ich zynisch. Er ist zwar nicht wieder Bürgermeister geworden, aber er lebte weiterhin in Bürgstadt. Die Franzosen haben sich über das geringe Strafmaß nicht echauffiert. Die haben gesagt, ihnen ginge es um Gerechtigkeit. Für sie musste gerichtlich festgestellt werden, was das für eine Verbrechen war, und die Täter mussten verurteilt werden. Und als das Urteil gesprochen wurde, weinten sie. Justice, also Gerechtigkeit, war immer das, was sie wollten.

Weißhaar: Wie würden Sie die öffentliche Wahrnehmung des Prozesses einschätzen? Hat der Prozess zu einer Aufklärung beigetragen?

Rosh: Vor dem Prozess liefen diese drei Verbrecher frei herum. Es war das Verdienst der Klarsfelds, dass sie zum Beispiel Lischka gestellt haben. In diesem Punkt würde ich den Franzosen folgen: Es war einfach bitter notwendig, Gerechtigkeit herzustellen. Und dann wurden sie verurteilt. Und die Presse berichtete über die Gerichtsverhandlung und das Urteil. Die Presse in Deutschland hat sehr gut und aufklärerisch berichtet. Die haben das Thema nicht unterdrückt oder unter den Teppich gekehrt. Es ist also Aufklärungsarbeit betrieben worden. Aber alles in allem sind die Nazi-Prozesse in Deutschland schandbar verlaufen, und da ist dieser Prozess eine absolute Ausnahme. Die anderen Prozesse endeten mit Freisprüchen noch und nöcher. Es sind viel zu wenige verurteilt worden. Eigentlich hätte man sie alle standrechtlich erschießen lassen müssen.

Ich habe einmal einen Mann, der für 80.000 Erschießungen als Einsatzgruppenleiter in der Sowjetunion verantwortlich war, mit der Kamera verfolgt. Dieser Mann lief frei rum, hatte ein sehr schönes Haus. Er verlebte also seinen Lebensabend völlig in Ruhe. In den Nürnberger Prozessen ist er ein bisschen verurteilt worden. Aber im Zuge des Kalten Krieges ist er, wie so viele, wieder freigekommen. Es folgte dann das Übliche: Ich versuchte, einen Fuß in die Tür zu stellen, aber er knallte die Tür zu. Also, das ist einfach schrecklich. Wenn man sich das vorstellt: Ermordung von 80.000 Juden, Partisanen und Kommunisten. Das waren die Einsatzgruppen, die gewütet haben in der Sowjetunion. Das ist so schrecklich. Die Staatsanwälte, die die Prozesse eingeleitet und geführt haben, haben in Deutschland großartige Arbeit geleistet. Das war das Werk der Staatsanwälte. Und die Richter haben es dann zu Teilen zunichte gemacht. Mit Schandurteilen, Freisprüchen oder Strafaussetzungen auf Bewährung, denn die Täter „würden nicht rückfällig werden“. Man bekam ja graue Haare, wenn man das las. Aber umso wichtiger war die unermüdliche Arbeit der Klarsfelds, die versucht haben, die Leute wenigstens vor Gericht zu bringen. Wir sind ja in unseren Ansprüchen schon bescheiden geworden.

Quelle: Judith Weißhaar, WDR-Bericht 1979