Der Lischka Prozess
Anfang 1976 kamen erste Gerüchte über die SS-Vergangenheit des langjährigen Ersten Bürgermeisters der fränkischen Marktgemeinde Bürgstadt Ernst Heinrichsohn auf. Im November desselben Jahres erschien ein Artikel im Nachrichtenmagazin SPIEGEL über „Das Deutschland der Heinrichsohns“, in dem von der Möglichkeit einer Anklage gegen den ehemaligen Unterscharführer gesprochen wurde. Der Zeitungsbericht stieß in Bürgstadt und Umgebung kaum auf Resonanz: Die Wählerinnen und Wähler wählten Heinrichsohn Frühjahr 1978 ohne Gegenkandidaten mit 85% der Stimmen erneut zum Bürgermeister.
Ernst Heinrichsohn wurde am 13. Mai 1920 in Hermsdorf bei Berlin geboren. Er besuchte die Volksschule in Hermsdorf/Reinickendorf, anschließend das Gymnasium. Im Jahr 1939 legte er sein Abitur ab und trat unmittelbar danach seinen Reichsarbeitsdienst an, zu dem er sich freiwillig gemeldet hatte.
Laut eigener Darstellung stand er ab dem 1. September 1939 im Dienst der Wehrmacht und diente beim Angriff auf Polen als Pionier. Im Dezember desselben Jahres wurde er zur Luftwaffe versetzt, ein paar Wochen später aber wegen einer Knieverletzung als wehruntauglich entlassen.
Zum Sommersemester 1940 nahm Ernst Heinrichsohn dann ein Studium der Rechtswissenschaften in Berlin auf. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verpflichtete ihn aber in dem Sommer bereits zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (BdS) nach Paris.
Heinrichsohn gehörte in Paris vom 1. September 1940 bis Anfang 1943 der Abteilung IV/J, dem Judenreferat der Sipo/SD an, wo er den Dienstgrad eines SS-Unterscharführers bekleidete. Als „Transportsachbearbeiter“ befasste er sich mit den Deportationen französischer Jüdinnen und Juden. Neben seiner Bürotätigkeit organisierte er mehrmals im Sammellager Drancy die Abfahrt von Transportzügen nach Auschwitz. Heinrichsohn sorgte dafür, dass auch Kinder und Kranke nicht von den Deportationen zum angeblichen „Arbeitseinsatz“ ausgenommen wurden. Während seiner Dienstzeit beim Referat IV/J wurden laut Anklageschrift 45.834 Juden aus Frankreich nach Auschwitz deportiert.
Im Laufe des Jahres 1943 wechselte Heinrichsohn zum Referat IV/E, das mit der Bekämpfung von „Partisanen“ und Widerstandskämpfern befasst war. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie verließen die deutschen Besatzer im Sommer 1944 Paris. Die gefangenen Widerstandskämpfer nahmen sie mit. Während des Rückzugs erschossen die deutschen Besatzer am 15. August 1944 fünf der Gefangenen, darunter den berühmten Widerstandskämpfer André Rondenay.
Für diese Tat wurden am 8. März 1956 sechs Deutsche von einem Kriegsgericht in Paris in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Unter den Verurteilten befand sich ein Ernst Heinrichson, ohne „h“. Tatsächlich hatte sich Ernst Heinrichsohn schon 1952, also vier Jahre zuvor, um eine Bescheinigung des Bundesjustizministeriums bemüht, die belegte, dass er nicht identisch mit dem „Gestapo-Agenten Ernst Heinrichson, geb. am 13. Mai 1905 in Berlin“ sei. Doch allein beim Blick auf die Geburtsdaten wird klar, dass es sich hierbei um ein Täuschungsmanöver handelte. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich schloss sich Heinrichsohn der Waffen-SS-Einheit Prinz Eugen an, der er bis zum 9. Mai 1945 angehörte.
Im Juni 1945 verhafteten amerikanische Soldaten Ernst Heinrichsohn als Mitglied einer SS-Einheit und internierten ihn für 18 Monate. Ende 1946 wurde er freigelassen. Heinrichsohn heiratete die Nichte eines Gasthausbesitzers aus Bürgstadt, die er in Paris kennengelernt hatte, wo sie bei der Gestapo als Schreibkraft tätig gewesen war. Die Spruchkammer Miltenberg stufte ihn im Mai 1948 als Mitläufer ein, weshalb er sein Jura-Studium in Würzburg wieder aufnehmen konnte.
Heinrichsohn engagierte sich bereits während seines Studiums in der Kommunalpolitik und wurde 1952 zum Zweiten Bürgermeister von Bürgstadt gewählt. Im Jahr darauf legte er sein erstes juristisches Staatsexamen ab, drei Jahre später das zweite und eröffnete eine Rechtsanwaltskanzlei in Miltenberg. Die Einwohnerinnen und Einwohner Bürgstadts wählten ihn 1960 zum Ersten Bürgermeister.
Als Angeklagter im Kölner Lischka-Prozess wurde Heinrichsohn zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Richter ging damit um ein Jahr über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus. Sein Verteidiger beantragte Revision.
In der Folge kam es zu Querelen um die Verhaftung Heinrichsohns, der aufgrund des Revisionsantrags seiner Verteidigung zunächst auf freien Fuß gesetzt, dann aber
wieder verhaftet worden war. Am 3. März stellten anonyme Bürgerinnen und Bürger aus Bürgstadt eine Kaution über 200.000 DM, was eine erneute Freilassung Heinrichsohns zur Folge hatte. Schließlich verhafteten ihn die bayrischen Behörden am 8. März erneut und überführten ihn in die Justizvollzugsanstalt Köln. Von dem Kölner Landgericht wurde Heinrichsohn zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nun begann auch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf gegen Heinrichsohn wegen des Vorwurfs der Ermordung von Widerstandskämpfern zu ermitteln. Aus Mangel an Beweisen und Zeugen wurde jedoch nie ein Verfahren eröffnet.
Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision Heinrichsohns. Dieser blieb in Haft, jedoch nur bis Dezember 1981, als er wegen Haftunfähigkeit entlassen wurde. Das Oberlandesgericht Bamberg setzte 1987 die Reststrafe von vier Jahren Haft schließlich zur Bewährung aus. Heinrichsohn zog sich aus der der Öffentlichkeit zurück. Er verließ Bürgstadt und zog nach Goldbach bei Aschaffenburg.
1985 hatte er einen weiteren Auftritt vor Gericht: Er wurde als Zeuge im Bonner Prozess gegen Modest Graf von Korff vernommen, der ebenfalls wegen seiner Rolle bei den Deportationen aus Frankreich angeklagt war. In seiner Aussage behauptete Heinrichsohn wiederum, selbst nichts über die Ermordung von Juden gewusst zu haben, weswegen gegen ihn ein Verfahren wegen Meineids eingeleitet wurde. Als er zwei Jahre später in der gleichen Angelegenheit noch einmal aussagen sollte, zog er es jedoch vor, zu schweigen, vermutlich aus Angst vor einem weiteren Meineidsverfahren.
Ernst Heinrichsohn starb am 29. Oktober 1994 in Goldbach bei Aschaffenburg.
Herr Heinrichsohn kam gegen fünf Uhr morgens und war immer sehr ungehalten, dass noch nicht alles bereit war. Er zeigte sich sehr unsensibel, er hatte keinerlei Mitleid mit den Kindern.“
Odette Baltroff – Baticle
Heinrichsohn sah ich, wie er im Lager bei den Deportationen war und wie er sehr korrekt gekleidet herumlief. Er war sehr schön und sehr jung. Er hatte kein Mitleid mit den Kindern und schrie herum.“
Marie Husson