Der Lischka Prozess

 

Gerichtssaal

Das Gerichtsgebäude lag gleich gegenüber der ehemaligen Gestapo-Zentrale, wo 1940 vor seinem Einsatz in Frankreich Kurt Lischkas Dienstort gewesen war.

Blick aus dem EL-DE-Haus auf das Gerichtsgebäude am Appellhofplatz 1980er Jahre

Prozessverlauf und Täterwissen

Prozessverlauf

Wissen der Täter

Gerichtssaal


Der Lischka-Prozess als „Bühne zur Selbstdarstellung der Kultur“ 

Die australische Kriminologin und Kulturwissenschaftlerin Kathy Laster spricht im Hinblick auf Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen von einer „Bühne zur Selbstdarstellung der Kultur“[1]. Diese Beschreibung betont erstens die Wechselwirkung zwischen Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit und dem Gerichtssaal, und verweist zweitens auf das Handeln diverser Akteur*innen im Gerichtssaal, die verschiedene Rollen innehaben und verschiedene Interessen vertreten, alle aber einer gewissen Dramaturgie folgen müssen mit dem Ziel der Urteilsfindung. 

1. In Deutschland sind die Möglichkeiten der öffentlichen Teilhabe an Gerichtsprozessen begrenzt. Strafprozesse finden in einem Gerichtssaal statt und das Geschehen wird – anders als in den USA beispielsweise – nicht im Radio, Fernsehen oder auf Internetplattformen übertragen. BesucherInnen sind mit strenger Ausweis- und Körperkontrolle zugelassen, ebenso akkreditierte Journalistinnen, wobei Gerichtsprozesse von großem öffentlichem Interesse unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Alle Beteiligten unterliegen einer Schweigepflicht, das gilt für Richter und Staatsanwälte im besonderen Maße.

NS-Gerichtsprozesse sind in der Regel auch gesellschaftliche Lernprozesse. So nahmen am Frankfurter Auschwitz Prozess 1963/64 häufig Schulklassen teil und u.a. das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss trug das Geschehen im Gerichtssaal wirkungsvoll in die Öffentlichkeit – wenn auch mit angepassten Inhalten. Aber von den Gerichtsverhandlungen selbst gibt es keine visuellen Dokumente – es ist eine Ausnahme, dass vom Auschwitz-Prozess intern Audio-Dokumente erstellt wurden. Im Gerichtssaal wird alles mündlich kommuniziert, auch Dokumente müssen mündlich verlesen werden. Das gesprochene Wort gilt und wird protokolliert; so sollen verschiedene Interpretationen vermieden werden. Die Gerichtsprotokolle verschwinden dann mit einer Sperrfrist in den Archiven für die historische Forschung späterer Generationen.   

Beim Lischka-Prozess 1979 war der Gerichtssaal viel zu klein, sodass nicht alle jüdischen Überlebenden, die extra aus Frankreich angereist waren, teilnehmen konnten. Um etwas aus dem Saal 133 zu erfahren, war die Zivilgesellschaft auf die Berichterstattung von Journalist*innen, die den Prozess besuchten, angewiesen. Die Protokolle des Lischka-Prozesses sind im Landesarchiv Rheinland in Duisburg mit einer Sperrfrist hinterlegt, können dort aber mit einer Sondergenehmigung eingesehen werden. 

2.  Die Aufgabe des Gerichts 1979/80 war es, herauszufinden, ob und welche Schuld ein individueller Angeklagter auf sich geladen hat: Im Lischka-Prozess waren die drei ehemaligen SS-Männer Ernst Heinrichsohn, Herbert-Martin Hagen und Kurt Lischka angeklagt, bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Frankreich „Beihilfe zum Mord in 75.000 Fällen“ geleistet zu haben. Als Beweismittel wurden Zeug*innenaussagen zugelassen und Dokumente der staatsanwaltlichen Ermittlungen herangezogen – im Fall des Lischka-Prozesses ergänzt durch ein historisches Fachgutachten, das die  Tatvorwürfe gegen die drei Angeklagten in den historischen Kontext des nationalsozialistischen Völkermords einordnete. 

Der Vorsitzende Richter des Schöffengerichts, Dr. Heinz Faßbender, führte den Prozess zielstrebig und betonte immer wieder, dass er sich von den Demonstrationen der jüdischen Überlebenden und deren Kindern auf der Straße und im Gerichtssaal nicht beeinflussen lassen werde. Richter sind zu unbedingter Neutralität verpflichtet; sie argumentieren auf der Grundlage des bestehenden Rechts, können aber auch rechtsschöpfend agieren und neue Auslegungen bestehenden Rechts umsetzen. In ihrer Urteilsfindung sind sie frei und unabhängig. Beraten wird zusammen mit den Schöffen. Dies ist kein abwägendes Urteil, sondern ein Urteil, das eine Entscheidung beinhaltet, entweder „Freispruch“ oder „Schuldig“ (es kann auch eine bedingte Schuldfähigkeit festgestellt werden, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.) Es bedarf einer ausführlichen Begründung des Urteils.

„In dubio pro reo“ – dieser strafrechtliche Grundsatz besagt, dass immer dann, wenn ein Umstand nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, der für den Angeklagten günstigere Fall angenommen werden muss.

Im Fall von Lischka und Hagen handelte es sich um Schreibtischtäter, die nicht etwa in einem Lager direkte Gewalt ausgeübt hatten – so wie der junge Heinrichsohn, der unter anderem im Sammellager von Drancy brutal seinen Dienst abgeleistet hatte. Zudem war ihr Arbeitsplatz in Paris räumlich weit entfernt von den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, die meist im nationalsozialistischen Generalgouvernement lagen. Zudem gaben sie vor, dass die Menschen in Zügen zum „Arbeitseinsatz“ dorthin geschickt werden konnten. Tatsächlich hatte es ja Transporte zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich gegeben, sowohl zwangsweise Verschickungen wie auch aufgrund freiwilliger Meldung. Aber die drei Angeklagten konnten in der Verhandlung nicht erklären, warum in den Transporten, die sie anwiesen und zusammenstellten, jüdische Menschen verschickt werden sollten, vor allem immigrierte Jüdinnen und Juden ohne französische Staatsbürgerschaft, darunter auch viele alte Menschen, die gar nicht arbeitsfähig waren, ebenso wenig wie die deportierten Kinder. Hinzu kam ihre Arbeitsplatzbeschreibung als „Judenbeauftragter“ oder in der „Gegnerbekämpfung“, eine Umschreibung der Praxis des eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten.

Der Prozess gegen die ehemaligen Lagermitarbeiter*innen des Konzentrationslagers Majdanek/Lublin im benachbarten Düsseldorf, der bereits 1975 begonnen hatte, war immer noch nicht abgeschlossen. Die Prozessführung hatte hohe Wellen der Empörung in der kritischen Öffentlichkeit hervorgerufen. Immer wieder fanden unsägliche Verletzungen der jüdischen Zeuginnen und Zeugen statt, insbesondere durch die Verteidiger der Angeklagten. Dies wollte der Kölner Richter Dr. Faßbender auf jeden Fall vermeiden. Durch die drei Nebenkläger waren die Stimmen der Opfer in Gerichtssaal angemessen repräsentiert. Die wenigen jüdischen Zeug*innen, die geladen waren, wussten, dass ihre Erzählung einzig und allein dem Zweck diente, die Gewalt des Angeklagten Heinrichsohn zu veranschaulichen, und dass der Gerichtssaal Distanz einforderte, wenn man das eigene Trauma erinnerte. Durch die Vorarbeit der Klarsfelds und des Staatsanwalts Holtfort lagen ohnehin genügend beweiskräftige Dokumente vor, unterstützt durch das über 300 Seiten lange Gutachten des Historikers Prof. Dr. Wolfgang Scheffler.


[1] Kathy Laster: Eine Bühne zur Selbstdarstellung der Kultur. Kriegsverbrecherprozesse in Australien; in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.): „Gerichtstag halten über uns selbst“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Jahrbuch 2001 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt 2001, S. 293-316,