Der Lischka Prozess

 

Historisches Gutachten

Das historische Gutachten von Prof. Wolfgang Scheffler (1929–2008)

Der Historiker Wolfgang Scheffler hatte in seinem mehr als dreihundert Seiten umfassenden Gutachten zu den entscheidungs- und handlungspragmatischen Dimensionen der Deportationen aus Frankreich die zentrale Rolle der sogenannten Schreibtischtäter für die Durchführung des organisierten Völkermords nachgewiesen. Scheffler, der eine Professur am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin inne hatte, beriet zahlreiche Gerichte, Staatsanwaltschaften und Untersuchungsbehörden in NS-Verfahren.
Vor dem „Lischka-Prozess“ war er bereits in 35 Prozessen als Gutachter aufgetreten. Die Verfahren hatten nicht nur vor bundesrepublikanischen, sondern auch vor Gerichten in Cleveland, New York, Toronto, Lyon und Jerusalem stattgefunden. 

Schefflers Gutachten stellen teilweise eigene Mikrostudien zu Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Belzec, Treblinka, Sobibor und Chelmno dar und schlossen Forschungslücken etwa zu Opferzahlen und Herkunft der Ermordeten. Sie warfen ein Licht auf bislang „blinde Flecken“ der Vernichtungsgeschichte in Ländern wie Frankreich, Italien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Scheffler gilt deshalb als ein „Nestor der Holocaustforschung“.  

Wolfgang Scheffler trug im  „Lischkaprozesses“ an zwei Sitzungstagen Ergebnisse aus dem umfangreichen historischen Gutachten vor. Dabei ging es vor allem um die Strukturen der deutschen Besatzungsherrschaft, im Kern aber auch um die Frage, was die drei Angeklagten über den Holocaust wissen konnten. 

Scheffler kam zu dem Ergebnis, dass alle in die Organisation der Massenvernichtung verwickelten SS- und Polizeiangehörigen zumindest in Teilgebieten über die praktische Auswirkung der „Endlösung“ informiert gewesen waren. Angesichts der zugänglichen Informationen, die „den führend an der Deportation beteiligten Personen der Sicherheitspolizei und des SD in den Jahren 1942/43 zur Verfügung standen“, sei es nur schwer vorstellbar, dass „sie sich über das letztliche Schicksal der meisten nach dem Osten deportierten Juden im unklaren waren“ führte der Sachverständige aus. Zudem sei es angesichts des Bildungsstandes der leitenden Befehlsgeber der Sipo und des SD, viele von ihnen Juristen, nicht vorstellbar, dass „sie sich über die letztlichen Konsequenzen ihres Handelns im unklaren waren“.

Auszug aus dem Gutachten:

„Auf fast keinem Gebiet der Erforschung der Geschichte wird zunehmend soviel spekuliert und auch manipuliert wie bei der Erörterung dieser Frage, wobei die gesicherten Tatsachenfeststellun­gen sehr oft unberücksichtigt blieben…. Es ist beginnend mit den Nürnberger Prozessen zu einer Legendenbildung gekommen, die aufgrund des heutigen Forschungsstandes als solide gekenn­zeichnet werden muss, nämlich hinsichtlich der Behauptung, dass alles, was mit der Judenvernich­tung zusammenhing nur einem kleinen Kreis von Menschen bekannt gewesen sei. Diese Legen­denbildung ist deshalb um so bezeichnender, wenn auch erklärbar, weil viele offenbar nur allzu leicht anzunehmen bereit sind, dass die Verschleppung und Vernichtung von Millionen Menschen sich habe tatsächlich unter vollkommenem Ausschluss der Öffentlichkeit vollziehen können, eine Annahme, die der Beruhigung des Gewissens zwar entgegenkommt, die Organisa­tionsstruktur des „Endlösungsapparats“ und die Konsequenzen, die sich aus seiner Tätigkeit ergeben, aber geflissentlich übersieht.“

Teil B, S. 1 ff.; HStA Rep. 267 Nr. 334

Im Düsseldorfer Majdanek-Prozess (19751981) hatte Scheffler als Sachverständiger ein historisches Gutachten vorgelegt. In dem Verfahren wurde er von einem der Angeklagten und dessen Verteidiger mit der Begründung abgelehnt, dass Scheffler bei dem jüdischen Wissenschaftler Ernst Fraenkel promoviert hatte. Als im Kölner Prozess ein Verteidiger den Sachverständigen angriff und austauschen lassen wollte, unterband dies Richter Faßbender.

Der im Gutachten für den „Lischka-Prozess“ hergestellte Konnex zwischen den Deportationen und den Vernichtungslagern machte deutlich, dass die Anklage gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn eigentlich „Mord“ hätte lauten müssen.