Der Lischka Prozess
Larissa Cain wurde am 8. Oktober 1931 in Sosnowiec/Polen geboren. Nach der deutschen Besetzung Polens wurde sie zusammen mit ihren Eltern im Warschauer Ghetto inhaftiert. Sie konnte 1942 mit Hilfe aus dem Ghetto fliehen und überlebte in Warschau die Verfolgungen, während ihre Eltern und der größte Teil ihrer Verwandtschaft von den Deutschen ermordet wurden. 1946 emigrierte sie im Alter von 16 Jahren nach Frankreich, und arbeitete dort, nach einer entsprechenden Ausbildung, als Kieferchirurgin. Seit den 1970er Jahren war sie aktives Mitglied der FFDJF und nahm auch an den Fahrten zu den Gerichtsterminen des Kölner Lischka-Prozesses teil. Nach dem Ende ihres aktiven Berufslebens begann sie als Autorin und Zeitzeugin zu arbeiten. Sie hat zahlreiche Bücher in französischer Sprache veröffentlicht, u.a. über das Warschauer Ghetto und ihre Erinnerungen an ihre Kindheit dort (Ghettos en révolte. Pologne 1943, Éditions Autrement, Paris 2003; J¹étais enfant à Varsovie. Éditions Syros Jeunesse, Paris 2003).
Köln. Dreißig Jahre später.
Lischka, Hagen, Heinrichsohn – drei kriminelle Schergen (triade de criminels)
Im besetzten Frankreich hatten Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn die Macht, den Juden unbegrenzt zu schaden, und sie machten davon eifrig Gebrauch. Welches Mitglied unserer Organisation Fils et Filles des Déportés Juifs de France (F. F. D. J. F.) war nicht von ihrer Politik betroffen gewesen? Dazu bestimmt, in einem Konzentrationslager zu sterben? Wer hatte nicht für immer seine Nächsten verloren? Und wer hatte nicht das Leben eines Gejagten geführt, um den Krieg zu überleben? Wir durchleben diese Vergangenheit immer und immer wieder.
Lischka, Hagen und Heinrichsohn haben sich nach dem Ende des Kriegs leicht wieder in das gesellschaftliche Netz integriert. Der Jüngste von den dreien, Rechtsanwalt Heinrichsohn, wurde sogar Bürgermeister in der kleinen Stadt Bürgstadt. War das zu ertragen? Deutschland war zerstört und die Deutschen wollten diese Vergangenheit auch mithilfe des „Kalten Krieges“ vergessen. Das versuchten sie zu einem Zeitpunkt, an dem die Alliierten es mit der Nazikarriere derer, die ihnen nützlich sein konnten, nicht so genau nahmen. Unser Krieg aber war brennend heiß. Die deutschen Gerichte, von denen einige mit genau den Juristen besetzt waren, die als SS-Funktionäre tätig gewesen waren, wollten die deutschen Untaten aus der Geschichte löschen.
Der Lischka-Prozess war beispielhaft. Dank der Hartnäckigkeit und der minutiösen Dokumentation von Serge und Beate Klarsfeld, die bei Gericht auf Dr. Faßbender trafen – einen jungen Mann, der wollte, dass in seinem Land, in Deutschland, Gerechtigkeit herrschte. Wir von den F. F. D. J. F. sind an der Seite von Serge und Beate Klarsfeld nach Deutschland gefahren, genauer gesagt nach Bürgstadt, um vor dem Haus von Heinrichsohn die Einwohner der Stadt über die Vergangenheit ihres Bürgermeisters im besetzten Frankreich aufzuklären. Dort musste ich erleben, dass ein Mann mich fragte: „Warum hat man euch nicht alle vergast?“
Wie der Name schon sagt, versammelte unsere Organisation die Waisenkinder des Krieges – uns, die wir bis an unser Lebensende durch den Verlust unserer Liebsten geprägt sind.
Bevor wir aktiv wurden, hatte jede und jeder Einzelne von uns allein diese Vergangenheit wieder und wieder durchleben müssen, ohne handeln zu können, ohne Gerechtigkeit reklamieren zu können. Dank Serge und Beate gab uns die Organisation nun die Möglichkeit aktiv zu werden. Ich selber war im Warschauer Ghetto interniert gewesen. In Frankreich, an der Seite von Serge und Beate, war ich nun zufrieden und erleichtert, an einem Akt der Gerechtigkeit teilhaben zu können. Zum Prozess vor einem deutschen Gericht war Serge als französischer Anwalt nicht zugelassen. Aber er hatte alle Dokumente der Anklage gesammelt und konnte sie während des Prozesses im richtigen Moment vorlegen.
Vom 23. Oktober 1979 an waren Mitglieder der F. F. D. J. F. bei jeder Sitzung in dem kleinen Saal anwesend. Annette Zaidman und Charlotte Erman organisierten diese Reisen nach Köln. Wir brachen abends auf, um in Köln vor sechs Uhr morgens anzukommen. Ich fuhr fast jede Woche mit. Nach dem Frühstück begaben wir uns zum Gericht und versuchten, dem Prozess – der ja in deutscher Sprache gehalten wurde – zu folgen. Wir haben damals die erste Ausstellung über die Deportation der französischen Juden in Deutschland vorbereitet und in der Kölner Oper und im Kölner Rathaus der Öffentlichkeit präsentiert. Junge Deutsche haben uns geholfen. Das war mein erster Kontakt mit Deutschen, die sich für unsere Vergangenheit – für die Shoah – interessiert haben. Die Eröffnung der Ausstellung fand im Beisein einiger Kölner Persönlichkeiten statt.
„Sie waren Hundert, sie waren Tausend“, sagt der Dichter. Ja, wir waren tausend französische Juden, die an diesem kalten Januartag 1980, kurz vor der Urteilsverkündung, schweigend durch die Kölner Straßen zogen. Am 11. Februar 1980 fiel das Urteil: für Lischka, den Ältesten der drei, zehn Jahre Gefängnis, für den arroganten Hagen zwölf Jahre und für Heinrichsohn, den Jüngsten, sechs Jahre Haft.
Dreißig Jahre später zurückzukehren – anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel zur Erinnerung an den Lischka-Prozess – unter komfortablen Bedingungen, auf Einladung des Gerichtspräsidenten, erfüllte mich mit großer Freude. Das war für uns die Erfüllung unserer Aktionen in einem Deutschland, das damals noch den Juden feindlich gegenübergestanden hatte und nun die Last seiner Vergangenheit anerkannte. Ich war froh, Dr. Faßbender wiederzusehen, der immer noch so großartig war wie vor 30 Jahren. Das Ideal der Europäischen Union, in der Frankreich und Deutschland vereint sind, ist das Beste, was nach diesem grauenvollen Krieg erreicht wurde. Es ist außerdem ein Beweis dafür, dass auch andere Konflikte gelöst werden können – und es gibt einem Mut, daran zu glauben.
Larissa Cain: Köln. Dreißig Jahre später, in: Anne Klein (Hrsg.): Der Lischka-Prozess: eine jüdisch-französisch-deutsche Erinnerungsgeschichte. Ein BilderLeseBuch. Berlin: Metropol 2013, S. 253–254 (aus dem Französischen übersetzt von Anne Klein).