Der Lischka Prozess
Im Kölner Prozess sprach Serge Klarsfeld im Namen der ermordeten jüdischen Kinder. Er war persönlich betroffen, da sein Vater deportiert worden war. Er hatte aussagekräftige Dokumente der NS-Verantwortlichen ausfindig gemacht, unter großem persönlichen Einsatz öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen NS-Täter durchgeführt, die Nebenklagen für den Prozess vorbereitet und trat nun selbst als Nebenkläger auf.
Das jüdische Kind im Jahre 1942
In einem von seinem Vater, Arno Klarsfeld, als Versteck ausgebauten Einbauschrank erlebte Serge Klarsfeld 1942 mit Schwester und Mutter in Nizza die Verhaftung des Vaters. Als Jude rumänischer Herkunft wurde Serge Klarsfelds Vater zunächst nach Drancy deportiert und von dort nach Auschwitz, wo er zur Zwangsarbeit im Bergwerk Fürstengrube herangezogen wurde. 1943 wurde der Vater in Auschwitz ermordet.
Der Historiker Serge Klarsfeld
Schon während der Besatzung hatten Gruppen um Isaak Schneerson in Frankreich – wie die Historiker um Emmanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto – Dokumente über die Verfolgung der Juden gesammelt. In der Sammlung befanden sich auch Unterlagen deutscher Dienststellen, die diese bei ihrem fluchtartigen Rückzug während der Befreiung von Paris zurückgelassen hatten. Diese Dokumente bildeten den Grundstock des späteren Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC), dem Dokumentationszentrum für jüdische Zeitgeschichte. Wären die Identitäten der Angeklagten Lischka, Hagen und Heinrichsohn und deren Tätigkeiten in Paris auf der Grundlage der Unterlagen nicht aufgedeckt worden, hätte der Kölner Prozess nicht stattfinden können. Viele Dokumente hatten die Angeklagten selbst diktiert, andere waren von ihnen unterschrieben oder paraphiert worden. In wieder anderen Dokumenten sind ihre Namen genannt. 2005 ist das Dokumentationszentrum in der neuen Institution Mémorial de la SHOAH – Musée, Centre de Documentation Juive Contemporaine aufgegangen.
Der Aktivist Serge Klarsfeld
In einem Interview bezeichnete Serge Klarsfeld sich selbst einmal als eine Mischung aus Historiker, Rechtsanwalt und Aktivist. Die Öffentlichkeitsarbeit war und ist ein wesentlicher Aspekt seiner Tätigkeiten. Beate und Serge Klarsfeld machten unter großem persönlichen Einsatz mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen seit Mitte der 1960er Jahre darauf aufmerksam, dass die Verbrechen im Zusammenhang mit der „Endlösung der Judenfrage“ juristisch noch nicht aufgearbeitet waren und die Hauptverantwortlichen ihre Karrieren straffrei und häufig auf hohem Niveau fortsetzen konnten. Im Fall des Kölner Prozesses bedurfte es eines langen Atems, da sich die Protestaktionen über neun Jahre hinzogen. Die Vereinigung Fils et Filles des Déportés Juifs de France (FFDJF), die Söhne und Töchter der aus Frankreich deportierten Juden, wurde 1979 im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten gegründet. Über die gesamte Dauer des Prozesses reisten viele Mitglieder dieser Vereinigung aus Frankreich zu den Gerichtssitzungen an. Neben Demonstrationen organisierten sie Ausstellungen über die nationalsozialistische Judenverfolgung vor dem Gericht, im Schauspielhaus und im Rathaus.
Der Rechtsanwalt und Nebenkläger Serge Klarsfeld
Serge Klarsfeld hatte im Vorfeld des Prozesses mehr als 300 Nebenklagen zusammengestellt und so die Arbeit der deutschen Anwälte vollständig vorbereitet. Die Vertretung der Nebenkläger konnten Anwälte mit deutscher Staatsangehörigkeit oder Anwälte mit spezieller Zulassung – so wie Kaul und Klarsfeld – übernehmen. Serge Klarsfeld ging es in seiner Arbeit nicht nur um die Gerechtigkeit und die juristische Aufarbeitung der Verbrechen, sondern auch um das Gedenken an die Opfer. Deshalb hielt er sein Plädoyer im Namen der deportierten Kinder und las gegen Ende seines Abschlussvortrages einen Brief der elfjährigen Liliane Gerenstein vor, deren Eltern vor ihr deportiert worden waren. Liliane Gerenstein betonte in ihrem an Gott gerichteten Brief ihr Hauptanliegen, die Rückkehr der deportierten Eltern, indem sie Großbuchstaben verwendete: „(…) Hiernach habe ich eine einzige Bitte: BRING MEINE ELTERN, MEINE ARMEN ELTERN, ZURÜCK. SCHÜTZ SIE (noch mehr als mich selbst), DAMIT ICH SIE SO FRÜH WIE MÖGLICH WIEDERSEHE. BRING SIE NOCH EINMAL ZURÜCK (…)“
Das Schicksal der Kinder ist Serge Klarsfeld ein besonderes Anliegen. Deshalb bearbeitete er das Gedenkbuch an die aus Frankreich deportierten jüdischen Kinder, „Le mémorial des enfants juifs déportés de France“, in dem mehr als 3.000 Fotos deportierter Kinder veröffentlicht sind. Zur Eröffnung der dazugehörigen Ausstellung erklärte Serge Klarsfeld 2004, dass die Vereinigung der Fils et Filles des Déportés Juifs de France Gerechtigkeit fordert. Dies bedeute auch die Bestrafung derjenigen, die den deutschen und französischen Polizeiapparat während der antijüdischen Operationen auf französischer Ebene geleitet hätten. Er nannte Lischka, Hagen, Heinrichsohn, Barbie, Bousquet, Leguay und Papon.
Seit Anfang der 1970er Jahre bemühten sich das Ehepaar Klarsfeld und andere Einzelpersonen und Gruppen, den „Fall Lischka“ ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sie wollten den Druck auf Politik und Justiz erhöhen, um ein Strafverfahren gegen Lischka zu initiieren. Im März 1971 versuchten die Klarsfelds, Lischka zu entführen, was als spektakulärer Auftakt diente. Die Aktivisten überschritten bewusst legale Protestformen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln und Stellungnahmen zu provozieren.
Neben solchen provokativen Aktionen lag der Schwerpunkt der französischen Opferverbände auf der Aufklärung der Öffentlichkeit über die Gräueltaten in Frankreich. Durch die Veröffentlichung von Dokumentationen über die Deportation der französischen Juden und andere Publikationen wollten die Klarsfelds und andere Aktivisten erreichen, dass mehr Bürger der BRD die Verurteilung der Kriegsverbrecher fordern (Serge Klarsfeld im Vorwort von Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich).
Eine Ausstellung im Kölner Schauspielhaus, maßgeblich von den Klarsfelds organisiert, wurde wenige Meter vom Gerichtsgebäude entfernt gezeigt, in dem der Prozess gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn stattfand. Die Ausstellung brachte den Kölnern das Schicksal der französischen Juden während der nationalsozialistischen Besatzung nahe. Auf 15 großen Tafeln waren die Namen aller zwischen 1942 und 1944 aus Frankreich deportierten Juden verzeichnet.
Die Forschungsergebnisse und Dokumentationen wurden an über 200 deutsche Bibliotheken, an Personen des öffentlichen Lebens, an Politiker sowie an Forschungsinstitute weltweit verschickt. Zeitgleich organisierten die Klarsfelds und französische Organisationen Zuschriftenaktionen an die Kölner Staatsanwaltschaft.
Zum Prozessauftakt am 23. Oktober 1979 reisten etwa 250 französische Juden nach Köln, um für eine Verurteilung der Angeklagten zu demonstrieren. Viele trugen gelbe Plaketten mit der Aufschrift „Juif de France“ (Jude aus Frankreich), die an die gelben „Judensterne“ aus der NS-Zeit erinnerten. Juden aus Belgien und Israel unterstützten sie, ebenso wie Kölner Antifaschisten, die meist mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) verbunden waren.
Vor dem Gerichtsgebäude skandierten die Demonstranten: „Lischka – Mörder, Hagen – Mörder, Heinrichsohn – Mörder!“ Im Eingangsbereich kam es zu tumultartigen Szenen, da nur ein Bruchteil der Angereisten im Verhandlungssaal Platz fand. Die Wahl des Saals war umstritten, da bis zu 250 Nebenkläger am ersten Prozesstag teilnehmen wollten, der Raum jedoch nur 70 Personen fasste. Etwa 100 Journalisten wollten ebenfalls den Prozess verfolgen. Einige Demonstranten versuchten, den Gerichtseingang zu stürmen, wurden jedoch von Justizbeamten aufgehalten.
Im Juni 1979 wurde das Kölner Gericht am Appellhofplatz kurzzeitig besetzt. Töchter der aus Frankreich deportierten Juden reisten mit Beate Klarsfeld nach Köln, um auf die Eröffnung des Lischka-Verfahrens zu drängen.
Während des gesamten Prozessverlaufs reisten größere Gruppen aus Frankreich an, um die Verhandlungen zu begleiten. Die Fils et Filles des Déportés Juifs de France organisierten insgesamt circa 3.000 Reisen von Paris nach Köln. Die größte Demonstration fand am 31. Januar 1980 statt, als etwa 1.200 Personen in einem Schweigemarsch durch die Innenstadt zur Synagoge in der Roonstraße zogen, wo ein Gottesdienst stattfand. Die Urteilsverkündung am 11. Februar 1980 wurde von den angereisten und lokalen Antifaschisten überwiegend mit Wohlwollen aufgenommen.