Der Lischka Prozess
Der Kurort Vichy im nicht besetzten Südfrankreich war von Juli 1940 bis August 1944 Sitz der französischen Regierung. Der Regierungschef Maréchal Philippe Pétain hatte nach der militärischen Niederlage den deutschen Besatzern die Zusammenarbeit (Kollaboration) angeboten. Mit der von ihm verkündeten Révolution nationale strebte er die autoritäre Erneuerung der französischen Gesellschaft an. Französische Polizisten und Gendarmen und insbesondere Angehörige der Miliz, einer Art Bürgerwehr, organisierten 1942 die Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Der Südteil Frankreichs war zu diesem Zeitpunkt noch nicht von den Deutschen besetzt. Die französische Bevölkerung war zutiefst gespalten. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus waren ebenso verbreitet wie Solidarität und Hilfe für verfolgte Juden.
Am 22. Juni 1940 war der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet worden. An der Verwaltungseinheit Frankreichs wurde festgehalten, und die Gesetze der Vichy-Regierung galten, soweit sie den deutschen Anordnungen nicht widersprachen, auch in Nordfrankreich. Der État français setzte der République française ein Ende. Die Einparteienregierung unter Pétain war bemüht, sowohl den Wünschen der deutschen Besatzer entgegenzukommen, als auch eigene radikale Vorschläge zu unterbreiten, um weiterhin nationale Souveränität zu demonstrieren. Von Anfang an praktizierte das Vichy-Regime eine antisemitische Politik. Am 3. Oktober 1940 wurde das erste statut des juifs erlassen. Erstmalig war von einer race juive („jüdische Rasse“) die Rede. Französischen Juden waren nun die Ausübung jeglicher politischer Tätigkeit sowie der Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt. Am folgenden Tag wurde per Gesetz die Internierung ausländischer Juden in speziellen Lagern ohne vorherigen Gerichtsprozess ermöglicht.
Im Frühjahr 1941 fanden auf Initiative von Theodor Dannecker, SS-Hauptsturmführer und Leiter des Judenreferats der Gestapo in Frankreich, die ersten Massenverhaftungen ausländischer Juden in Paris und Umgebung statt. Mit dem zweiten antijüdischen Statut vom 2. Juni 1941 veranlasste die Vichy-Regierung dann die behördliche Registrierung aller Juden. Es handelte sich um die erste von zwanzig weiteren Verfügungen dieses Gesetzes, die alle darauf zielten, die Juden aus dem ökonomischen und sozialen Leben Frankreichs auszuschalten. Im Juli 1941 wurde beispielsweise die Konfiszierung jüdischer Unternehmen angeordnet – der Ausdruck „Arisierung“ tauchte hier zum ersten Mal auf.
Als Mitte 1942 auf Betreiben der Deutschen mit den Deportationen begonnen und damit die „Endlösung“ auch in Frankreich in die Tat umgesetzt wurde, waren die Weichen also gestellt. Die bürokratische Erfassung funktionierte, und von der Öffentlichkeit wurden Juden entweder als entrechtete, verarmte und wehrlose Opfer oder als gefährliche Widerstandskämpfer angesehen. Die französische Polizei hatte bei den Repressionen gegen Ausländer und ausländische Juden bereits umfangreiche praktische Erfahrungen gesammelt. Große Teile der Bevölkerung, die sich gegen den Antisemitismus zur Wehr gesetzt hatten, waren eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht worden. Aber vielerorts organisierte sich auch heimlicher Widerstand. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 waren insbesondere die Sektionen der Kommunistischen Partei mit ausländischen Juden, die sogenannte Main d’Œuvre Immigrée (MOI), aktiv geworden. Im August 1941 fanden in Paris und Umgebung mehrere Attentate auf deutsche Soldaten statt. Unter dem Vorwand, die „Feinde Deutschlands“ zu suchen, durchkämmten Polizei und Militär daraufhin Städte, Dörfer und ganze Landstriche. Es wurden massenhaft Juden interniert und – deklariert als „Sühnemaßnahmen“ – sogenannte Geiselerschießungen durchgeführt. Im Herbst 1941 drohte die deutsche Militärverwaltung erstmalig als Strafe für den Widerstand die Massendeportation von Juden an. Am 27. März 1942 fuhr der erste Transport aus Drancy nach Auschwitz; die Deportationen aus Südfrankreich wurden im Sommer desselben Jahres durchgeführt.
Die Vichy-Regierung weigerte sich zunächst, die Deutschen bei den Deportationen zu unterstützen. Doch am 2. Juli 1942 genehmigte Ministerpräsident Pierre Laval auf Drängen des Generalsekretärs der Polizei, René Bousquet, die Deportation ausländischer Juden. Der Befehlshaber von Sipo und SD (Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst) in Frankreich, Helmut Knochen, und Herbert Hagen, der persönliche Referent des Höheren SS- und Polizeiführers in Frankreich, gaben den französischen Stellen an, wie viele Juden zum Zweck der Deportation verhaftet werden sollten. Die Deportationen sollten vorerst auf sogenannte Staatenlose und Nicht-Franzosen unter den Juden beschränkt bleiben. Am 16. und 17. Juli 1942 setzten dann jedoch große Massen-Razzien in ganz Frankreich ein. Besonders dramatisch war die Situation in Paris und Umgebung, wo die Festgenommenen, unter ihnen zahlreiche Frauen und Kinder, in der Radrennbahn Vélodrome d’Hiver in der Nähe des Eiffelturms unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht wurden.
Gerade die Tatsache, dass die Verhaftungen der Juden, das Auseinanderreißen von Familien und die Verfrachtung zu den Sammelstellen durch die französische Polizei in aller Öffentlichkeit, zum Teil in den Bussen der kommunalen Verkehrsgesellschaften, durchgeführt wurden, rief in weiten Teilen der französischen Bevölkerung tiefe moralische Entrüstung hervor. Am 22. Juli 1942 verabschiedete die Versammlung der katholischen Erzbischöfe und Kardinäle in der besetzten Zone einen Protestbrief an Marschall Pétain. Am 23. August 1942 verschickte der Erzbischof von Toulouse, Jules-Géraud Saliège, einen Hirtenbrief an die Priester seiner Erzdiözese. Trotz massiver Anstrengungen seitens loyaler Beamter des Vichy-Regimes, die Verbreitung der Flugschrift zu verhindern, wurde die Botschaft in der Mehrzahl der Gotteshäuser verlesen. Die Deportationen, so argumentierte Saliège, verletzten die christlichen und die französischen Werte. Die Juden seien Brüder und Schwestern der Christen und allen anderen Menschen gleichgestellt. Ende August 1942 schloss sich der höchste Repräsentant der katholischen Kirche in der unbesetzten Zone, der Kardinal und Erzbischof von Lyon, Pierre-Marie Gerlier, diesem offenen Aufbegehren gegen die Deportationen an. Da das Vichy-Regime – im Unterschied zur laizistischen Republik – in Regierungsangelegenheiten immer wieder die enge Verbindung mit der Kirche, insbesondere der katholischen, betonte und regelrecht auf kirchliche Unterstützung angewiesen war, hatte dieser öffentliche Aufruf zur Verweigerung einen enormen Effekt. Am 2. September 1942 kündigte die Regierung in Vichy ihre Unterstützung für den deutschen Deportationsplan auf. Es handelte sich jedoch nur um ein taktisches, zeitlich befristetes Einlenken; bereits im November 1942 fuhren wieder Deportationszüge in die Vernichtungslager, und bis 1944 fanden weitere Deportationen statt.
Allerdings konnten durch diese Verzögerung viele Menschen gerettet werden, denn derweil wurde in der Bevölkerung zunehmend Widerstand organisiert. Die Kriegswende in Stalingrad hatte mit zu dem Glauben beigetragen, dass Hitler bald besiegt werden könnte. Die jüdische Bevölkerung wurde nun aktiv vor den Razzien gewarnt. Die meisten verließen rechtzeitig ihr Zuhause. Viele wurden versteckt. Insbesondere Kinder wurden in Heimen, Klöstern und bei Familien auf dem Land untergebracht. Viele jüdische Jugendliche und Erwachsene schlossen sich dem Maquis an, dem militanten Arm der Résistance.
Aus Frankreich wurden fast 76.000 Juden deportiert, vor allem nach Auschwitz und Sobibór; nach offiziellen Schätzungen sind 55.000 ausländische und ca. 25.000 französische Juden Opfer der „Endlösung“ geworden. 11.000 Kinder wurden deportiert; betroffen waren insbesondere die Kinder von eingewanderten Juden, die qua Geburt die französische Staatsbürgerschaft innehatten. Nur 2.560 deportierte Juden überlebten die Lager, sie kehrten nach dem Krieg, wie auch die meisten rekrutierten Zwangsarbeiter/-innen und politische Aktivisten/-innen, nach Frankreich zurück. 3.000 Juden starben allein in den Lagern in Frankreich, weitere 1.000 wurden bei „Geiselerschießungen“ exekutiert oder zu Tode geprügelt. Nach offiziellen Schätzungen lebten 1940 in Frankreich 320.000 Juden, davon die Hälfte Immigranten ohne französische Staatsbürgerschaft und 70.000 Kinder. 75 Prozent von ihnen, also ca. 240.000 Menschen, konnten sich vor den Deportationen retten; die meisten überlebten durch die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen.
Eine zentrale Instanz der antijüdischen Verfolgung unter dem Vichy-Regime war das im März 1941 gegründete Commissariat général aux questions juives (Generalkommissariat für Judenfragen). Der Leiter Xavier Vallat war äußerst antisemitisch eingestellt, allerdings war er zugleich sehr patriotisch und ging gegenüber den Deutschen auf Konfrontationskurs. Auf Wunsch des deutschen Botschafters, Otto Abetz, wurde er daher im Mai 1942 entlassen. Die Deportationen fanden nun unter seinem Nachfolger, Louis Darquier de Pellepoix, statt. Aber Xavier Vallat blieb ein unverbesserlicher Antisemit. Er agitierte auch nach dem Krieg öffentlich gegen Juden, unter anderem als Redakteur einer extrem rechten, faschistischen Zeitschrift. Bei der Beerdigung Xavier Vallats im Januar 1972 protestieren Serge und Beate Klarsfeld mit einem großen Davidstern auf dem Mantel vor dem Friedhofseingang.
Die Fotos von den Deportationen sind einem von Serge Klarsfeld herausgegebenen Bildband entnommen. Dieser Band wurde anlässlich einer Konferenz zur Erinnerung an den 50. Jahrestag des ersten antijüdischen Gesetzes der Vichy-Regierung im Oktober 1990 publiziert. Die bis dahin meist unveröffentlichten Fotografien hatte Serge Klarsfeld bei seinen Recherchen in Archiven in Berlin, München, Koblenz, Jerusalem, New York, Amsterdam und Frankreich zusammengetragen.
Klein, A (2013): Die Verfolgung und Deportation der Juden aus Frankreich; in Der Lischka – Prozess. Hrsg.: Anne Klein. Berlin: Metropolitan Verlag. S. 34-39