Der Lischka Prozess
Rolf Holtfort hat als Staatsanwalt und Mitarbeiter der Kölner Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen die Vorermittlungen zum Lischka-Prozess geführt und maßgeblich zur Verurteilung der Täter beigetragen.
Der 1938 geborene Holtfort war zuerst Finanzbeamter, entschloss sich aber als 24-jähriger zum Nachholen des Abiturs und zum Jurastudium. Auf seinen eigenen Wunsch hin arbeitete er seit 1975 als Dezernent für die Zentralstelle in Köln. Hier wurde er zum Spezialisten für den „Frankreich-Komplex“, d.h. die Deportation zigtausender jüdischer Menschen aus Frankreich in die Vernichtungslager. Durch jahrelanges akribisches Aktenstudium und durch die Vernehmung zahlreicher Zeuginnen und Zeugen kannte Holtfort die Vorgänge schließlich wie kein Zweiter in allen Einzelheiten. Er war ein sehr kundiger, engagierter und kluger Ermittler. Wie er immer wieder betonte, schauderte es ihn beim Gedanken daran, wie viele Akademiker, insbesondere Juristen, als „hohe Tiere“ im NS-Apparat für das Völkermordverbrechen verantwortlich gewesen waren.
In der Zentralstelle Köln setzte Holtfort seine Kenntnisse zu Ermittlungen gegen die deutschen Organisatoren der Deportationen aus Frankreich ein. Sein entscheidender Beitrag bestand darin, Schutzbehauptungen von NS-Tätern, sie hätten die deportierten Juden nicht wissentlich in den Tod geschickt, durch detailgenaues Wissen zu entkräften. Staatsanwalt Holtfort war ein Meister der Verhörmethode, die Beschuldigten und deren Ausflüchte mit den jeweils passenden schriftlich fixierten Tatsachen zu konfrontieren und somit prompt zu widerlegen. „Holtfort war […] nahe daran, die Mauer aus Schweigen [der ehemaligen SS-Kameraden] zu durchbrechen“. (Bernhard Brunner, Aufarbeitung der in Frankreich verübten NS-Gewaltverbrechen, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003,
S. 183-200, hier: S. 191.)
Dass Kurt Lischka, Ernst Heinrichsohn und Herbert Hagen wegen Beihilfe zum Mord an den aus Frankreich verschleppten Jüdinnen und Juden 1980 zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, war sein größter Erfolg. Rolf Holtfort hatte die Anklageschrift vorbereitet und während des Prozesses zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. Aufgrund seiner Expertise wurde er in den 1980er und 1990er Jahren als Zeuge zu Prozessen nach Frankreich gerufen, die sich mit den Verbrechen von französischen NS-Kollaborateuren befassten (vgl. Spiegel-Artikel aus 1998 und 2002 s.u.). Schließlich konnten die Angeklagten nicht durch Geständnisse, sondern fast ausschließlich aufgrund der Aktenlage überführt werden.
Holtfort genoss im Kölner Prozess auch bei den F.F.D.J.F. hohes Ansehen. So urteilte Beate Klarsfeld in ihrer Erinnerung: „Bei den deutschen Staatsanwälten konnten wir uns nur auf einen verlassen, und das war Staatsanwalt Rolf Holtfort.“ (Beate Klarsfeld, Politik und Protest, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003, S. 167-176, hier: S. 174.)
Sein Engagement hatte allerdings eine Kehrseite, gegen die er selbst vergeblich ankämpfte: Obwohl im Rahmen des „Frankreich-Komplexes“ gegen weitere SS-Leute ermittelt wurde, blieben die Urteile von Köln eine einmalige Ausnahme. Das Gesamtverfahren wurde fast zeitgleich zum Kölner Prozess zerschlagen, nachfolgende Einzelverfahren führten in keinem weiteren Fall zur Verurteilung. Zahlreiche NS-Verbrechen blieben also ungesühnt. Von einem gewissen Einfluss dürfte hierbei die Tatsache gewesen sein, dass die Kölner Zentralstelle mit Generalstaatsanwalt Werner Pfromm ausgerechnet einem ehemaligen NS-Führungsoffizier unterstellt war, der offenbar kein Interesse an umfassender Aufklärung hatte, die Verurteilten von Köln als Bauernopfer und den „Frankreich-Komplex“ als damit abgeschlossen betrachtete.
Werner Pfromm war kein Einzelfall: Den beiden Zentralstellen in Köln und Dortmund standen in der Zeit ihres Bestehens insgesamt sieben andere ehemalige Nationalsozialisten vor. (Vgl. Brunner, a.a.O., S. 196.) 1998 erhob Rolf Holtfort öffentlich Vorwürfe gegen seinen mittlerweile verstorbenen ehemaligen Vorgesetzten (u.a. „Auf meiner Liste standen hunderte von Verdächtigen“, in: Der Spiegel, 5.1.1998). Seine Vorwürfe initiierte ein Forschungsprojekt durch die nordrheinwestfälische Landesregierung über die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Die in zahlreichen Fällen ausgebliebene Ahndung von Verbrechen – trotz gelungener Aufklärung der Zusammenhänge – macht deutlich, dass die bundesdeutsche Justiz durch ihre Kontamination mit ehemaligem NS-Personal in der Gründungsphase der Bundesrepublik bis in die Gegenwart nachhaltig beeinträchtigt wurde.
Holtfort wiederfuhr nach Beendigung seiner Tätigkeit für die Zentralstelle ein äußerst tragisches Schicksal. Er wurde trotz zahlreicher unaufgeklärter NS-Verbrechen 1986 zur Jugendstrafkammer versetzt. Er litt daraufhin unter gesundheitlichen Problemen. Nur noch einmal, im Juli 1987, erlebte der frühere Kölner Ermittler einen Triumph:
In Lyon stand der ehemalige Gestapo-Chef Klaus Barbie, der sich über 30 Jahre in Bolivien versteckt hatte, vor Gericht. Bis zuletzt bestritt der frühere SS-Offizier, 1944 befohlen zu haben, ein jüdisches Kinderheim in Izieu-Ain zu räumen und die 44 dort lebenden Mädchen und Jungen in die Vernichtungslager zu deportieren. Aktenkenner Holtfort, in Lyon als Zeuge geladen, wies nach, dass es sich bei dem von Barbie unterzeichneten Dokument nicht um eine Fälschung handelte, wie die Verteidigung behauptete, sondern um ein echtes Schriftstück. Barbie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.
Während man in der Bundesrepublik Deutschland Holtforts Spezialkenntnisse nicht mehr nutzen wollte, schätzte man ihn in Frankreich als Experten. 1998 wurde Holtfort erneut als Zeuge geladen, diesmal nach Bordeaux im Prozess gegen den französischen Ex-Politiker Maurice Papon. Der Funktionär des kollaborierenden Vichy-Regimes hatte 1942 die Deportationen nach Auschwitz mit veranlasst und organisiert. Papon wurde später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Haft verurteilt. Holtfort sollte in dem Prozess als Zeuge aussagen. Er erhielt aber eine anonyme Morddrohung und musste abreisen. Zwei Wochen nach dieser vorzeitigen Abreise verunglückte sein Sohn unter nicht restlos aufgeklärten Umständen tödlich.
Rolf Holtforts großes Verdienst bleibt es, drei NS-Gewaltverbrecher zur Verurteilung geführt zu haben und als Staatsanwalt mit Innensicht auf die bundesdeutsche Justiz auf deren eklatante Mängel bei der Ahndung von NS-Verbrechen hingewiesen zu haben. Rolf Holtfort ist am 24. Dezember 2008 im Alter von siebzig Jahren verstorben. Im Informationsmagazin des Kölner Anwaltvereins wurde ihm eine späte Anerkennung für seine Verdienste in den Ermittlungen im „Frankreich-Komplex“ und seine Anklagevertretung im Prozess gegen Kurt Lischka und Herbert Hagen ausgesprochen: „Die Durchführung des Gerichtsverfahrens, geprägt von Takt und Würde, wurde im In- und Ausland als beeindruckend empfunden. Ihm und seinem Lebenswerk gelten unser beruflicher Respekt und unsere menschliche Hochachtung.“
[…] [Lischka, Hagen und Heinrichsohn] werden angeklagt, in der Zeit vom März 1942 bis Mai 1944 in Frankreich zu der vorsätzlichen und rechtswidrigen, grausam, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangenen Tötung vorsätzlich Hilfe geleistet zu haben. In Ausführung der von Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und anderen aus rassischen Gründen erteilten Befehle zur Vernichtung des europäischen Judentums sind in der Zeit von März 1942 bis Mai 1944 aus dem Bereich des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich mindestens 73.000 jüdische Menschen in insgesamt 73 Eisenbahntransporten überwiegend in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort zum größten Teil in Gaskammern durch das Gas Zyklon B getötet worden. Den Opfern wurde bei ihrer Festnahme vorgetäuscht, sie kämen zu dem Arbeitseinsatz in den Osten. Dadurch wurde erreicht, dass sie ohne ernsthaften Widerstand den Anordnungen der Sicherheitsbeamten und der SS Folge leisteten. Noch im Lager wurde ihnen erklärt, dass sie gebadet würden und sie dann zu arbeiten hätten. Sie wurden dann nackt und ahnungslos in den Vergasungsraumraum hineingetrieben, der von außen verriegelt wurde. Das alsdann in die Gaskammer hineingeleitete Zyklon-B-Gas entwickelte durch die Verbindung mit der Luft tödliche Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen nach einigen Minuten qualvoll und unter Todesangst erstickten. Ihre Tötung erfolgte aus Rassenhass unter Verachtung aller Grundsätze der Menschlichkeit. Den Angeschuldigten wird zur Last gelegt, durch ihre Mitwirkung an den Deportationen nach Auschwitz die von der NS-Führung geplante und in dem Konzentrationslager Auschwitz durchgeführte Vernichtung jüdischer Menschen gefördert zu haben.
[…] Die Angeschuldigten sind hinreichend verdächtig, die Pläne der NS-Führung um die Vernichtung der jüdischen Menschen in Europa und die Bedeutung des Begriffs „Endlösung der Judenfrage“ gekannt, zumindest aber mit der Möglichkeit der Tötung der deportierten Juden ernsthaft gerechnet und trotzdem einverständlich an den Deportationsmaßnahmen mitgewirkt zu haben. Sie kannten das gewaltige Ausmaß der Deportationen und deren Begleitumstände, die deutliche machten, dass die Deportierten in Auschwitz, dem Endziel der Transporte, einem grausamen Schicksal entgegengingen. […]
(Quellennachweis: HStaD, Außenstelle Kalkum, Rep. 267 Nr. 260, S. 7143-45.)
In der Folgezeit wurden auch Kinder in die Deportationen einbezogen. So teilte RÖTHKE dem RSHA (Reichssicherheitshauptamt) am 14.8.1942 fernschriftlich mit, daß der Transportzug Nr. B 901/14 den Abgangsbahnhof Le Bourget-Drancy in Richtung Auschwitz verlassen habe, „darunter erstmalig Kinder“. Hierbei handelte es sich um den am 16.8.1942 in Auschwitz eingetroffenen Transport. In einem Vermerk vom 13.8.1942 berichtete RÖTHKE, daß „die aus dem unbesetzten Gebiet eintreffenden Juden … in Drancy mit Judenkindern … vermischt werden in der Weise, daß auf 700, mindestens jedoch 500 erwachsene Juden 300 bis 500 Judenkinder zugeteilt werden, da nach der Weisung des Reichssicherheitshauptamtes Züge nur mit Judenkindern nicht abgeschoben werden dürfen …“.
Besonders hoch war der Anteil der Kinder bei den Transporten vom 17., 19., 21. und 24.8.1942. Es handelte sich hierbei überwiegend um Kinder, die bei der Großrazzia am 16./17. Juli 1942 festgenommen worden waren und deren Trennung von den Eltern bereits geschehen war. So befanden sich beispielsweise unter den 1.000 Juden, die mit Transport Nr. 23 am 24.8.1942 nach Auschwitz deportiert wurden, 553 Kinder unter 17 Jahren. Beim Transport Nr. 22 vom 21.8.1942 befanden sich unter den 1.000 Juden 275 Mädchen und 269 Jungen unter 14 Jahren. Von diesen 545 Kindern waren 11 Kinder zwei Jahre alt, 23 drei Jahre, 23 vier Jahre, 21 fünf Jahre, 26 sechs Jahre, 47 sieben Jahre, 45 acht Jahre, 50 neun Jahre, 72 zehn Jahre, 70 elf Jahre, 77 zwölf Jahre, 51 dreizehn Jahre und 18 vierzehn Jahre.
Daß bei alledem das bei einer Dienstbesprechung am 11.6.1942 im EICHMANN-Referat in Berlin, an der von Paris DANNECKER teilgenommen hatte, festgelegte Soll von 100.000 Juden beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 40 Jahren aus dem besetzten und unbesetzten Frankreich nicht annähernd und in dem oben aufgezeigten Umfange auch nur unter Aufgabe der Altersbeschränkung erreicht werden konnte, ist in erster Linie auf den Widerstand der Vichy-Regierung zurückzuführen, die sich weigerte, Juden mit französischer Staatsbürgerschaft in die Deportationsmaßnahmen einzubeziehen.“
(Quellennachweis: HStaD, Außenstelle Kalkum, Rep. 267 Nr. 260, S. 7143-45.)