Staatsanwaltschaft

„Bei den deutschen Staatsanwälten konnten wir uns nur auf einen verlassen: Rolf Holtfort“ (Beate Klarsfeld)

Rolf Holtfort hat als Staatsanwalt und Mitarbeiter der Kölner Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen die Vorermittlungen zum Lischka-Prozess geführt und maßgeblich zur Verurteilung der Täter beigetragen.

Der 1938 geborene Holtfort war zuerst Finanzbeamter, entschloss sich aber als 24-jähriger zum Nachholen des Abiturs und zum Jurastudium. Auf seinen eigenen Wunsch hin arbeitete er seit 1975 als Dezernent für die Zentralstelle in Köln. Hier wurde er zum Spezialisten für den „Frankreich-Komplex“, d.h. die Deportation zigtausender jüdischer Menschen aus Frankreich in die Vernichtungslager. Durch jahrelanges akribisches Aktenstudium und durch die Vernehmung zahlreicher Zeuginnen und Zeugen kannte Holtfort die Vorgänge schließlich wie kein Zweiter in allen Einzelheiten. Er war ein sehr kundiger, engagierter und kluger Ermittler. Wie er immer wieder betonte, schauderte es ihn beim Gedanken daran, wie viele Akademiker, insbesondere Juristen, als „hohe Tiere“ im NS-Apparat für das Völkermordverbrechen verantwortlich gewesen waren.

In der Zentralstelle Köln setzte Holtfort seine Kenntnisse zu Ermittlungen gegen die deutschen Organisatoren der Deportationen aus Frankreich ein. Sein entscheidender Beitrag bestand darin, Schutzbehauptungen von NS-Tätern, sie hätten die deportierten Juden nicht wissentlich in den Tod geschickt, durch detailgenaues Wissen zu entkräften. Staatsanwalt Holtfort war ein Meister der Verhörmethode, die Beschuldigten und deren Ausflüchte mit den jeweils passenden schriftlich fixierten Tatsachen zu konfrontieren und somit prompt zu widerlegen. „Holtfort war […] nahe daran, die Mauer aus Schweigen [der ehemaligen SS-Kameraden] zu durchbrechen“. (Bernhard Brunner, Aufarbeitung der in Frankreich verübten NS-Gewaltverbrechen, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003,
S. 183-200, hier: S. 191.)

Dass Kurt Lischka, Ernst Heinrichsohn und Herbert Hagen wegen Beihilfe zum Mord an den aus Frankreich verschleppten Jüdinnen und Juden 1980 zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, war sein größter Erfolg. Rolf Holtfort hatte die Anklageschrift vorbereitet und während des Prozesses zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. Aufgrund seiner Expertise wurde er in den 1980er und 1990er Jahren als Zeuge zu Prozessen nach Frankreich gerufen, die sich mit den Verbrechen von französischen NS-Kollaborateuren befassten (vgl. Spiegel-Artikel aus 1998 und 2002 s.u.). Schließlich konnten die Angeklagten nicht durch Geständnisse, sondern fast ausschließlich aufgrund der Aktenlage überführt werden.

Holtfort genoss im Kölner Prozess auch bei den F.F.D.J.F. hohes Ansehen. So urteilte Beate Klarsfeld in ihrer Erinnerung: „Bei den deutschen Staatsanwälten konnten wir uns nur auf einen verlassen, und das war Staatsanwalt Rolf Holtfort.“ (Beate Klarsfeld, Politik und Protest, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003, S. 167-176, hier: S. 174.)
Sein Engagement hatte allerdings eine Kehrseite, gegen die er selbst vergeblich ankämpfte: Obwohl im Rahmen des „Frankreich-Komplexes“ gegen weitere SS-Leute ermittelt wurde, blieben die Urteile von Köln eine einmalige Ausnahme. Das Gesamtverfahren wurde fast zeitgleich zum Kölner Prozess zerschlagen, nachfolgende Einzelverfahren führten in keinem weiteren Fall zur Verurteilung. Zahlreiche NS-Verbrechen blieben also ungesühnt. Von einem gewissen Einfluss dürfte hierbei die Tatsache gewesen sein, dass die Kölner Zentralstelle mit Generalstaatsanwalt Werner Pfromm ausgerechnet einem ehemaligen NS-Führungsoffizier unterstellt war, der offenbar kein Interesse an umfassender Aufklärung hatte, die Verurteilten von Köln als Bauernopfer und den „Frankreich-Komplex“ als damit abgeschlossen betrachtete.

Werner Pfromm war kein Einzelfall: Den beiden Zentralstellen in Köln und Dortmund standen in der Zeit ihres Bestehens insgesamt sieben andere ehemalige Nationalsozialisten vor. (Vgl. Brunner, a.a.O., S. 196.) 1998 erhob Rolf Holtfort öffentlich Vorwürfe gegen seinen mittlerweile verstorbenen ehemaligen Vorgesetzten (u.a. „Auf meiner Liste standen hunderte von Verdächtigen“, in: Der Spiegel, 5.1.1998). Seine Vorwürfe initiierte ein Forschungsprojekt durch die nordrheinwestfälische Landesregierung über die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Die in zahlreichen Fällen ausgebliebene Ahndung von Verbrechen – trotz gelungener Aufklärung der Zusammenhänge – macht deutlich, dass die bundesdeutsche Justiz durch ihre Kontamination mit ehemaligem NS-Personal in der Gründungsphase der Bundesrepublik bis in die Gegenwart nachhaltig beeinträchtigt wurde.

Holtfort wiederfuhr nach Beendigung seiner Tätigkeit für die Zentralstelle ein äußerst tragisches Schicksal. Er wurde trotz zahlreicher unaufgeklärter NS-Verbrechen 1986 zur Jugendstrafkammer versetzt. Er litt daraufhin unter gesundheitlichen Problemen. Nur noch einmal, im Juli 1987, erlebte der frühere Kölner Ermittler einen Triumph:
In Lyon stand der ehemalige Gestapo-Chef Klaus Barbie, der sich über 30 Jahre in Bolivien versteckt hatte, vor Gericht. Bis zuletzt bestritt der frühere SS-Offizier, 1944 befohlen zu haben, ein jüdisches Kinderheim in Izieu-Ain zu räumen und die 44 dort lebenden Mädchen und Jungen in die Vernichtungslager zu deportieren. Aktenkenner Holtfort, in Lyon als Zeuge geladen, wies nach, dass es sich bei dem von Barbie unterzeichneten Dokument nicht um eine Fälschung handelte, wie die Verteidigung behauptete, sondern um ein echtes Schriftstück. Barbie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.

Während man in der Bundesrepublik Deutschland Holtforts Spezialkenntnisse nicht mehr nutzen wollte, schätzte man ihn in Frankreich als Experten. 1998 wurde Holtfort erneut als Zeuge geladen, diesmal nach Bordeaux im Prozess gegen den französischen Ex-Politiker Maurice Papon. Der Funktionär des kollaborierenden Vichy-Regimes hatte 1942 die Deportationen nach Auschwitz mit veranlasst und organisiert. Papon wurde später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Haft verurteilt. Holtfort sollte in dem Prozess als Zeuge aussagen. Er erhielt aber eine anonyme Morddrohung und musste abreisen. Zwei Wochen nach dieser vorzeitigen Abreise verunglückte sein Sohn unter nicht restlos aufgeklärten Umständen tödlich.

Rolf Holtforts großes Verdienst bleibt es, drei NS-Gewaltverbrecher zur Verurteilung geführt zu haben und als Staatsanwalt mit Innensicht auf die bundesdeutsche Justiz auf deren eklatante Mängel bei der Ahndung von NS-Verbrechen hingewiesen zu haben. Rolf Holtfort ist am 24. Dezember 2008 im Alter von siebzig Jahren verstorben. Im Informationsmagazin des Kölner Anwaltvereins wurde ihm eine späte Anerkennung für seine Verdienste in den Ermittlungen im „Frankreich-Komplex“ und seine Anklagevertretung im Prozess gegen Kurt Lischka und Herbert Hagen ausgesprochen: „Die Durchführung des Gerichtsverfahrens, geprägt von Takt und Würde, wurde im In- und Ausland als beeindruckend empfunden. Ihm und seinem Lebenswerk gelten unser beruflicher Respekt und unsere menschliche Hochachtung.“

Literatur

  • Antwort der Landesregierung von NRW auf die Kleine Anfrage 1032 der Abgeordneten Brigitte Schumann (GRÜNE). Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 12/2998, 1998.
  • Bernhard Brunner, Aufarbeitung der in Frankreich verübten NS-Gewaltverbrechen, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003, S. 183- 200.
  • Interview mit Rolf Holtfort. In: Der Spiegel 2/1998 (5.1.1998)
  • Beate Klarsfeld, Politik und Protest, in: Anne Klein / Jürgen Wilhelm (Hrsg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, 2003, S. 167-176.
  • Ahlrich Meyer: Täter im Verhör. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940-1944.
    Darmstadt 2005.
  • Hans-Eckhard Niermann: Generalstaatsanwalt Werner Pfromm und die Arbeit der Zentralstelle Köln, in: Juristische Zeitgeschichte NRW Band 9. Die Zentralstellen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Versuch einer Bilanz, 2001.
  • Bruno Schrep: Der gejagte Jäger. In: Der Spiegel 31/2002 (29.7.2002)
  • Anne Klein, Der Staatsanwalt Rolf Holtfort im Lischka-Prozess, in: dies (hg.) Der Lischka-Prozess, Eine jüdisch-französische-deutsche Erinnerungsgeschichte, Berlin: Metropolen Verlag 2013, S. 92-93

Interview mit Holtford (Vorwort)

Interview mit Rolf Holtfort über seine Ermittlungsarbeit als Staatsanwalt, 2002.

Wie kam das Interview mit Staatsanwalt Rolf Holtfort zustande?

Nachdem es dem Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld mithilfe der Kölner Staatsanwaltschaft gelungen war, die drei deutschen Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich, Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn, vor Gericht zu bringen, begann er mit einer Kampagne zur Vorbereitung eines Prozesses in Frankreich. Angeklagt werden sollten nun hochrangige Vertreter des Vichy-Regimes, die für die Verhaftung und Auslieferung von Juden an die Deutschen verantwortlich gewesen waren. Im Zusammenhang mit dieser Kampagne verfasste Klarsfeld ein Buch über die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich zwischen 1942 und 1944, das in zwei Bänden unter dem Titel „Vichy-Auschwitz“ 1983/85 erschienen ist. 

Dieses bis heute unübertroffene Standardwerk zur Judenverfolgung in Frankreich habe ich 1989 in deutscher Übersetzung herausgegeben. Im Anschluss daran habe ich mich zunächst eingehend mit der deutschen Besatzung in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt und mehrere Aufsätze und Bücher über die Bekämpfung der französischen Widerstandsbewegung durch Wehrmacht und SS veröffentlicht. („Die deutsche Besatzung in Frankreich“, 2000.) 

Erst später entschied ich mich dazu, das Thema der „Endlösung der Judenfrage“ nochmals aufzunehmen. In der „Zentralen Stelle des Landesjustizverwaltungen“ in Ludwigsburg und im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf habe ich das dort lagernde, umfangreiche Aktenmaterial der staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich durchgesehen. Der Vorwurf lautet auf Beteiligung an der Verhaftung und Deportation der Juden. Die meisten Verfahren wurden ergebnislos eingestellt. Aus diesen Recherchen ist ein Buch entstanden, in dem ich die Aussagen von Beschuldigten und Zeugen untersuche und sie mit den historischen Ereignissen konfrontiere; die juristischen Fragen im engeren Sinne habe ich ausgeklammert. („Täter im Verhör. Die ‚Endlösung der Judenfrage‘ in Frankreich“, 2005.) 

Mir war schnell klar geworden, dass kaum jemand der vernommenen Personen brauchbare Einlassungen zum Tatgeschehen gemacht hatte, für die sich ein Historiker hätte interessieren können. Niemand konnte angeblich Näheres über die Judenverfolgung sagen, niemand wollte direkt oder indirekt an Verhaftungen von Juden, Razzien oder Deportationen mitgewirkt haben. Alle hatten angeblich während ihrer Dienstzeit in Frankreich von Auschwitz und vom Mord an den Juden nichts gehört und gewusst. Nun war allerdings nach damaligem Stand der Rechtsprechung die Kenntnis des mörderischen Zwecks der Deportationen Voraussetzung, um einen Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord verurteilen zu können. 

Bei diesem Stand meiner Forschungen habe ich Kontakt zu Rolf Holtfort aufgenommen. Wir führten einen längeren Briefwechsel. Ich wollte von ihm vor allem wissen, warum der Nachweis, dass jemand um die Vernichtung der deportierten Juden gewusst haben musste, vor deutschen Gerichten eine so große Rolle spielte. Er erläuterte mir, dass im Rahmen des Strafrechts die Kenntnis des Täters über den „Erfolgseintritt“ seines Tatbeitrags von entscheidender Bedeutung sei. Ohne nachweisbare Kenntnis dieses „Erfolgseintritts“ ist eine Bestrafung wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord nicht möglich. In der Praxis der NS-Verfahren (so im Kölner Lischka-Prozess) wurde alternativ der sogenannte „bedingte Vorsatz“ herangezogen: Ein Täter, der z.B. Deportationen angeordnet hatte, war auch dann wegen Beihilfe zu bestrafen, wenn er zwar nicht positiv wusste, was in Auschwitz geschah, aber mit der Möglichkeit der Tötung eines großen Teils der Deportierten rechnen musste und dies billigend in Kauf genommen hatte. Auch dieser Nachweis war bei einem bürokratisch verwalteten und damit hochgradig arbeitsteilig organisierten Verbrechen wie dem Holocaust nur schwer zu erbringen. 

Je mehr Protokolle der von Holtfort durchgeführten Vernehmungen ich las, desto mehr fragte ich mich, wie er es erreicht hatte, Beschuldigte zu belastbaren Aussagen zu bewegen und Anklagen gegen sie vorzubereiten. Er war der einzige mit den Frankreich-Verfahren befasste Staatsanwalt, dem es gelang, die üblichen Entlastungsstrategien der Beschuldigten aufzubrechen und ihre Leugnungen und Lügen offen zu legen – durch geschickte Fragestellungen, durch die Vorlage einschlägiger Dokumente, die der Betreffende selbst unterzeichnet hatte, und nicht zuletzt durch eine genaue Kenntnis der historischen und organisatorischen Zusammenhänge, die sich Holtfort in langem Aktenstudium angeeignet hatte. Als ich ihn während des Interviews nach seiner Verhörtechnik fragte, gab er – in seinem Kölner Dialekt – bündig zur Antwort: „Ich habe den Leuten einfach nicht geglaubt.“ Holtforts klare Haltung fußte einerseits auf seiner fundierten Kenntnis der Dokumente und seinem Wissen über die Abläufe des Holocaust, und entsprang andererseits seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Er gehört zu den wenigen Staatsanwälte der alten Bundesrepublik, die sich bei der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern glaubwürdig und ganz persönlich engagierten.

Nach einem längeren Schriftwechsel mit Holtfort beschloss ich, zusammen mit einem Kollegen, der die Verhältnisse im nordrhein-westfälischen Justizapparat gut kannte, zu einem Interview nach Köln zu fahren. Dazu hatte ich einen Katalog von Fragen vorbereitet, der Folgendes umfasste: ,

  • die Technik der Vernehmungen; 
  • die Bearbeitung der sogenannten „Frankreich-Verfahren“ durch die „Zentralstelle Köln“; 
  • die Beschaffung von Dokumenten aus Frankreich; 
  • Holtforts Anklageschrift vom 28.6.1978 gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn;
  • seine Einschätzung des Prozesses; 
  • die „Austrennung“ der übrigen von Holtfort vorbereiteten Verfahren, wodurch der Gesamtkomplex „Endlösung der Judenfrage in Frankreich“ Holtfort aus der Hand genommen und zerschlagen wurde. 

Als wir 2002 mit Holtfort sprachen, wirkte er offen und zugewandt, aber auch resigniert. Er starb nach längerer Krankheit 2009. Seine Verdienste um die juristische Aufklärung der deutschen Verbrechen in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs sind bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden. 

Ahlrich Meyer

Interview mit Holtford (Gesamttext)

Gespräch mit Staatsanwalt Holtfort, Köln, 25. April 2002

Frage: Wie kommt eine Vernehmung zustande, vor allem: Wie kommt ein Vernehmungsprotokoll zustande?

Holtfort: Natürlich ist die vorherige Kenntnis nötig: was ist das für ein Mann, was hat er beruflich gemacht, was hat er im Dritten Reich gemacht – wobei die Dokumentenlage immer schon sehr wichtig war für den Einstieg. Aber das Gespräch – korrekterweise muss man sagen, die Vernehmung – um deren Charakter nicht allzu sehr schon direkt am Anfang zu betonen, habe ich mich immer bemüht, mit den Leuten erst einmal ins Gespräch zu kommen. In allen Vernehmungen, das kann ich also sagen, ist im Voraus eine sehr ausführliche und zum Teil auch recht zeitaufwendige Vorbesprechung  gemacht worden, ehe man ein Gerüst hatte und dann – im Einverständnis mit dem Beschuldigten – sagen konnte: Können wir jetzt etwas zu Papier bringen? Das war wichtig, und wie gesagt von ganz großer Bedeutung war immer: wessen Geistes Kind ist der Betreffende. Ich erinnere mich jetzt an einen Herrn wie Moritz [August Moritz].[1] Das ist ein wirklich schlicht strukturierter Mensch gewesen.

Frage: Eine schillernde Figur?

Holtfort: … eine sehr schillernde Figur. Im Gegensatz dazu ein Herr Dr. Illers,[2] der – sage ich mal – zunächst fast beleidigt war, dass er als Beschuldigter  vernommen wurde, der Herr Senatspräsident. 

Frage: Ich möchte eine Vernutung formulieren, die nicht auf Ihre Vernehmungen zutreffen mag. Kann man sagen, dass diese Vernehmungsprotokolle zwei Autoren haben, zum einen den Staatsanwalt bzw. den Kriminalbeamten, der die Vernehmung führt – beispielsweise Herr Kaup vom LKA, der sehr gute und viele Vernehmungen gemacht hat  …

Holtfort: Einer meiner besten Mitarbeiter.

Frage: … also ich spreche jetzt von keinem konkreten Vernehmungsbeamten, aber kann man sagen, dass in diesem Vorgespräch sozusagen ein gemeinsamer Konsens hergestellt wird, der sich dann in dem Vernehmungsprotokoll niederschlägt?

Holtfort: Ja, das habe ich immer versucht.

Frage: Könnte es auch sein, dass ein Interesse an bestimmten Formulierungen vorher abgesprochen wurde, dass man sich darauf einigte, was man zu Protokoll nehmen wollte und was nicht?

Holtfort: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Das kann sich nur darauf beziehen, dass man immer bis zu einem gewissen Punkt … – meinetwegen, was den Einsatz [gemeint ist die Dienststellung; A.M.] des Betreffenden angeht, aber speziell jetzt die Frage des Tatbeitrages und das Wissen um die Bedeutung des Tatbeitrages, das habe ich in der Vorbesprechung nicht angeschnitten – noch nicht. 

Frage: Also kann man davon ausgehen, dass das, was da zu Protokoll gegeben wurde, im Wesentlichen die Aussage des Vernommenen selbst ist und nicht die Zusammenfassung durch den Vernehmungsbeamten?

Holtfort: Ja, davon können Sie ausgehen. 

Frage: Aber bei vielen Vernehmungen – nicht bei Ihnen – fällt eine gewisse Standardisierung auf, nicht nur, wenn ein Kriminalbeamter einfach einen Fragenkatalog durchgeht, sondern auch, wenn hochrangige Beamte wie beispielsweise die Staatsanwälte aus Dortmund die Vernehmungen führen. Die Vernehmungsprotokolle gleichen sich wie ein Ei dem anderen. 

Holtfort: Das stimmt!

Frage: Da hat man den Eindruck, dass der Staatsanwalt formuliert und nicht der Vernommene.

Holtfort: Ja. Sie müssen einmal die Vernehmungen lesen, die Herr Pfromm[3] gemacht hat. Pfromm hat ja früher auch NS-Verfahren in Bonn bearbeitet, und Sie müssen einmal die Vernehmungen des Herrn Globke[4] lesen – toll, die Vernehmung –, Bargatzky,[5] Speidel,[6] so diese Leute, da trifft das zu, da kann ich Ihnen das hundertprozentig bestätigen. Da ist mit Sicherheit vorher, im Vorgespräch, ein Konsens erzielt worden. 

Frage: Bei Ihnen hatten die Vorgespräche also mehr die Funktion, mit dem Beschuldigten auf eine Gesprächsebene zu kommen, um herauszufinden, mit wem man es zu tun hatte? 

Holtfort: Es ging um das „Aufwärmen“ – allerdings um dann doch schon unter Umständen in Einzelfragen zu klären, wo man war, wo man eingesetzt war, einzelne Dokumente …, es läuft ja praktisch immer auf die Frage hinaus: Was wurde gewusst. Das hört sich im Grunde genommen so simpel an, aber um diese Frage rankt sich ja alles. Und da gibt es ja so viele Schattierungen, es gibt so viele Möglichkeiten, dass der Beschuldigte sagt, wenn er jetzt clever war, dass er sagt: „Oh Moment, jetzt fragt er das, da muss ich mal überlegen, bis 1942 war das noch nicht so ein Problem“, und so weiter. Das hat man alles erlebt. Aber man konnte dann erst während der Vernehmung richtig versuchen, den Beschuldigten „festzunageln“. 

Frage: Können wir dafür mal ein Beispiel nehmen? Im Mai 1975 haben Sie – zusammen mit Herrn Kaup[7] – in Aurich die Vernehmung von Illers durchgeführt. Darf ich ein Stück aus dem Vernehmungsprotokoll vorlesen? Mir ist aufgefallen, dass Sie wenig Fragen formulieren. Man merkt aber, dass Sie intervenieren – das merkt man an den Antworten, die gegeben werden. Ich zitiere Illers: 

„Mit irgendwelchen Maßnahmen gegen die Juden in Frankreich, insbesondere ihre Inhaftierung und anschließenden Deportation war ich nicht befasst. Ich hatte wohl Kenntnis davon, dass Razzien gegen Juden in Frankreich stattfanden und dass die auf diese Weise Inhaftierten in das Lager Drancy bei Paris kamen. Weiterhin ging ich damals davon aus, dass die verhafteten Juden in den Osten transportiert und dort zum Arbeitseinsatz kommen würden. Von dem wahren Schicksal dieser Menschen war mir zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls nichts bekannt. Ich kann heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann ich erstmals von der Vernichtung der Juden in Auschwitz erfahren habe. Ich nehme an bald nach Mai 1945.“

So, jetzt muss eine Intervention von Ihrer Seite gekommen sein, denn jetzt geht es weiter:

„Wenn mir nunmehr das Schreiben des KdS [Kommandeur der Sicherheitspolizei] Paris vom 1.3.1943 an den BdS [Befehlshaber der Sicherheitspolizei] Paris vorgehalten wird, so muss ich meine Aussagen von oben dahingehend einschränken, dass mir zu diesem Zeitpunkt (1.3.43) der Namen Auschwitz schon ein Begriff war. Der Inhalt dieses Schreibens beweist, dass ich in Einzelfällen, die sich mit Maßnahmen gegen Juden befassten, im Rahmen meiner Tätigkeit als Leiter der Abteilung IV E zu tun hatte.“

Und dann sagt Illers noch, „aus der Tatsache, dass gegen einzelne Juden […] vorgegangen“ worden sei, könne nicht abgeleitet werden, er habe gewusst, „dass das Gesamte sich in Frankreich aufhaltende Volk jüdischer Abstammung vernichtet werden sollte.“ Also er behauptet zunächst: Mit irgendwelchen Maßnahmen gegen die Juden war ich nicht befasst, vom Schicksal der Deportierten hatte ich keine Ahnung, von Auschwitz habe ich erst nach 1945 gehört. Dann zeigen Sie ihm ein Dokument, und daraufhin muss er zugeben, dass er von Auschwitz offenbar bereits im März 1943 gehört hatte und dass er mit Maßnahmen gegen Juden befasst war. Das scheint mir Ihre Vernehmungstechnik zu charakterisieren. 

Holtfort: Ja, da erkennen Sie genau die Taktik, dass ich ihm wahrscheinlich vorher gesagt haben werde: „Erzählen Sie mal, was sie so gemacht haben, auch in Bezug auf die Juden.“ So ist der erste Teil zu erklären. Nun könnte man natürlich sagen, und das hatte ich mir damals – glaube ich – auch sehr gut überlegt, das ist nicht so die ganz feine Art, also vielleicht nicht zulässig. Ich wusste, dass ich die Dokumente habe, und habe ihn nun erst einmal erzählen lassen. So könnte man sagen, der lässt ihn aber ganz schön ins offene Messer laufen. Ich bin der Meinung, oder war der Meinung, das ist gerechtfertigt, wenn die Leute nicht von sich aus bereit sind, den wahren Sachverhalt zu schildern. Dann habe ich das Recht als Staatsanwalt, erst einmal herauszufinden, was sie freiwillig sagen, und dann mit konkreten Dokumenten zu kommen, wo ich also dann ziemlich sicher bin, dass der Betreffende auch kippen wird. Wenn Sie nämlich das Ganze anders aufziehen würden, bekämen Sie ja nie das Eingeständnis des Beschuldigten: „Ach so, wenn ich das jetzt so lese, muss ich zugeben, dass …“. Der Mann würde, wenn er das gleich zu Anfang sieht, sich sofort seine Einlassung [d.h. eine entlastende Aussage; A.M.] parat legen. Also das war die Taktik, und sie ist auch meines Erachtens im Hinblick auf diese grauenhafte Materie gerechtfertigt. Die Polizei muss ja immer aufpassen, dass sie die Beschuldigten nicht irgendwie „linkt“, nicht wahr. Im Fernsehen erleben Sie das laufend – das ist alles unzulässig. Das geschilderte Verfahren aber halte ich nicht für unzulässig, das halte ich sogar für sehr förderlich für die Aufklärung. Denn nur auf diese Art und Weise ist es einem ja gelungen, dem einen oder anderen  tatsächlich etwas zu entlocken. 

Frage: Gab es dafür eine Ausbildung in speziellen Vernehmungstechniken?

Holtfort: Nein. Das habe ich selber entwickelt. Die Schreibdame, die wir in Köln hatten, eine sehr geübte, denn es fanden ja auch Zeugenvernehmungen in Köln statt (beispielsweise den Dr. Nährich[8] habe ich hier in Köln vernommen), diese erfahrene Frau also hat mir gesagt: „Mein lieber Mann, Herr Holtfort, Ihnen möchte ich nicht in die Finger fallen.“  [Lacht]

Frage: Haben Sie sich mit Kollegen ausgetauscht über Vernehmungstechniken und hatten Sie den Eindruck, dass die anderen das anders machen?

Holtfort: Die anderen haben das zumeist so gemacht, wie Sie schon gesagt haben, wie Sie das vielfach lesen, also praktisch so wie die Kriminalbeamten. Von Kriminalbeamten kann ich eine solche Vernehmung nicht erwarten. 

Frage: Noch einmal zurück zu dem Inhalt der Vernehmungen. Sämtliche höheren Angehörigen der deutschen Dienststellen im besetzten Frankreich – sowohl die Angehörigen der Militärverwaltung wie der Sicherheitspolizei – leugnen, dass sie das Los der deportierten Juden kannten. Die Frage ist deswegen wichtig, weil ja die ersten Transporte ab März 1942, die noch von der Militärverwaltung angeordnet worden sind, als sogenannte „Sühnemaßnahmen“ bezeichnet wurden, als Deportation zur „Zwangsarbeit“. Genau damit reden sich die meisten Verantwortlichen heraus: Sie hätten geglaubt, die Juden kämen zum „Arbeitseinsatz“ im Osten, wenn auch unter schwierigen Bedingungen, so dass ein Überleben vielleicht nicht gewährleistet war, aber man habe niemals von der systematischen Vernichtung der Juden gehört. Für wie glaubwürdig haben Sie damals diese Einlassungen gehalten?

Holtfort: Für völlig unglaubwürdig. Ich meine auch, das in jeder Vernehmung deutlich gemacht zu haben, dass ich denen das nicht abgenommen habe.

Frage: Mir ist aufgefallen, je höher der frühere Dienstrang war, je höher die akademische Qualifikation, desto mehr haben die Leute ihr angebliches Nichtwissen zu Protokoll gegeben (zum Beispiel Bargatzky), während die kleinen Angehörigen der Ordnungspolizei, die die Judentransporte begleitet haben – zum Beispiel Köhnlein[9] [Zwischenruf Holtfort: oder Bilharz[10]] – bereit waren, Aussagen zu machen. Man hat den Eindruck, dass gerade die Elite alles dafür getan hat, den wahren Sachverhalt zu verschleiern.

Holtfort: Was meinen Sie, wenn ich mich irgendwo angekündigt habe, beispielsweise bei Herrn Illers, was meinen Sie, wie der vorher herumtelefoniert hat.

Frage: Die haben sich abgesprochen?

Holtfort: Ja sicher. Und die kleinen Leute wie Bilharz, der hatte niemanden, wenn Sie so wollen. Auch Korff[11] – das Verfahren ist dann in Bonn gelaufen – hat mir in einem Vieraugengespräch in Königswinter eingeräumt, Kenntnis von der Sache, vom dem Schicksal der Juden, gehabt zu haben. Er hat anschließend, unmittelbar danach gesagt: „Ja, wir sind ja alleine, Herr Holtfort, wiederholen werde ich das nicht.“ Das habe ich dann vor dem Prozess dem Anwalt gegenüber angedeutet. Und auch im Prozess habe ich gesagt: „Ich weiß doch, dass Sie es wussten.“ Der Anwalt hat sofort reagiert. Das habe ich nur ein einziges Mal erlebt. Dann habe ich ein einziges Mal erlebt, dass einer wirklich gesagt hat: „Ich weiß, was passiert ist“ – das war Bilharz. 

Frage: Geht das aus dem Vernehmungsprotokoll hervor?

Holtfort: Doch, da bin ich ganz sicher.  Ich habe ihn ja angeklagt. Das war eine Anklage, die umfasste vier Personen: Nährich, Korff, Freise[12] und Bilharz. Freise hat sich vorher umgebracht, Nährich war verhandlungsunfähig. Das war am Tage des Beginns der Hauptverhandlung. Da wurde mir von meinem Vorgesetzten gesagt: „Sie werden heute nach Bonn fahren, aber Sie werden die Hauptangeklagten Nährich dort nicht vorfinden.“ Ich sagte: „Das ist ja schön, das ich das jetzt erfahre.“ Nährich hatte beste Beziehungen zum Ministerium. Hinterher hat er mir mal gesagt, man hätte ihm gesagt, er wäre „bekloppt“, dass er überhaupt zu mir zur Vernehmung gekommen sei …

[Weiter zur Vernehmung Bilharz:] Ich bin mir fast sicher, dass das drinsteht. Und zwar, ins Unreine gesprochen – das ist schon sehr lange her: „Ich habe schon gewusst, welche ‚Sauereien’ (das Wort „Sauereien“, meine ich, oder „Schweinereien“) passiert sind.“ So ist das von ihm formuliert worden. Er war nämlich irgendwo im Osten abkommandiert und hat also eigene Erlebnisse gehabt.  Das hat er dann auf die ankommenden Züge übertragen.

Frage: Es gibt eine Aussage von Bargatzky, in der er zugibt bzw. wonach er gehört haben will, dass Heydrich[13] 1942 anlässlich der Amtseinführung Obergs[14] in Paris bei einem Vortrag im Hôtel Majestic über Tötungsversuche mit Gaswagen berichtet habe. Da habe er zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommen, was tatsächlich geschah. Zudem seien auch Meldungen von Erschießungen im Osten, etwa in Babyn Jar, nach Paris gelangt. Das heißt, Bargatzky hat bruchstückhaft sein Wissen preisgegeben. 

Darf ich zu dem Hauptverfahren gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn kommen? Sie haben das Verfahren im Februar 1975 übernommen. Es gibt einen Vermerk von Herrn Schneider[15] aus Ludwigsburg vom 23.2.1975, darin heißt es: „Bearbeiter des Ermittlungsverfahrens 130 (24) Js 1/66 (Z) bei der Zentralstelle Köln ist jetzt Staatsanwalt Holtfort.“ Wie haben Sie sich den für die Übernahme des Verfahrens nötigen Kenntnisstand über die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich angeeignet?

Holtfort: Ich bin Ende 1973 zur Zentralstelle Köln „abkommandiert“ worden, weil dort nach einer Revision des Generalstaatsanwalts furchtbare Missstände festgestellt worden waren (ältere Herrschaften, die im Dienst größere Mengen Alkohol zu sich nahmen), und musste zunächst ein kleines Verfahren bearbeiten, ein Einzelverfahren. Ich war jedenfalls von vornherein ausgeguckt im Hinblick auf den Weggang des bisherigen Sachbearbeiters, Herrn Kelkel.[16]Ich war als dessen Nachfolger vorgesehen, sobald die Ratifizierung des deutsch-französischen Zusatzabkommens kommen würde. Ich hatte also vielleicht ein halbes Jahr Zeit, mich einzuarbeiten. Vor der Ratifizierung sind die Herren, Bargatzky, Globke, Speidel usw. alle nur als Zeugen vernommen worden. Sie durften ja nicht als Beschuldigte vernommen werden. Die Staatsanwälte sind durch die ganze Welt gereist, damals noch mit einem Herrn Plümpe[17] und Herrn Gehrling.[18] Jedenfalls die schieden alle aus, und da waren plötzlich Herr Kelkel und ich vorgesehen, das Frankreich-Verfahren zu übernehmen. Wobei ich heute davon ausgehe, dass der Herr Generalstaatsanwalt Pfromm sich sicher war, dass die Ratifizierung schief gehen würde. 

Frage: Pfromm hatte einen Draht zu Achenbach?[19]

Holtfort: Genau. Der hielt überhaupt nichts davon und hat möglicherweise spekuliert: Da suchen wir uns einen, der kann ruhig noch jünger sein – ich war ja noch jung – , der das Ganze dann abwickelt. Wir hatten einzelne Akten, Zeugenakten, dann hätte man das so gemacht: Man nimmt zu jeder einzelnen Akte die abgelehnte Ratifizierung, das ist ein absolutes Verfahrenshindernis, dann schreibt man ein paar Sätze dazu, und die Sache ist damit erledigt. Da hatten sie sich aber gewaltig geschnitten. Ich weiß also, Herr Kelkel hat es mir persönlich gesagt, daß man nicht damit gerechnet hat, dass ratifiziert würde – unter dem Einfluss der FDP. Wer aber damals die politische Lage richtig einschätzen konnte, wenn man über Informationen verfügte, wenn man weiß, wie das gelaufen ist – zwischen Mitterand[20] und Schmidt[21] – kurz: es hat gewaltigen Druck gegeben. Wer das im Gespür hatte, der wusste natürlich auch, was kommt. Aber ich glaube nicht, dass das diese Herren so im Detail Bescheid wussten. Die rechneten alle mit einer Nicht-Ratifizierung und waren also doch mehr oder weniger überrascht. 

Wie war dann die Reaktion? Derjenige, der dann am meisten Druck auf mich persönlich ausgeübt und gesagt hat: „Also Herr Holtfort, Sie übernehmen jetzt das wichtigste und interessanteste Verfahren, das wir bis jetzt gehabt haben“, das war Gehrling, der auch – das muss ich sagen – mitgeholfen hat. Das muss man fairerweise sagen. Nach diesem Zeitpunkt, also ab dem Zeitpunkt der Ratifizierung – das ist wirklich so spannend gewesen, dass wir stündlich darauf gewartet haben –, da konnte man erst die Leute wie Lischka, Hagen, Heinrichsohn und all die anderen auch als Beschuldigte verantwortlich vernehmen. Das bedeutete natürlich, dass man jetzt für die Vernehmungen das Dokumentenmaterial aufbereiten musste. Lischka beispielsweise ist vorher nie zu den Judendeportationen vernommen worden, sondern nur so an der Oberfläche. Diese Herren Kelkel und Plümpe, die haben sich vorzugsweise immer den ganz Hohen zugewandt. Wenn Sie lesen, wie die Vernehmung Globkes stattgefunden hat, im Bundeskanzleramt, da wird Ihnen fast schlecht. Das müssen Sie sich so vorstellen: Der Herr Staatssekretär bittet …, nicht etwa: Komm mal nach Köln in die Zentralstelle als Beschuldigter. 

Nun muss ich immer wieder sagen, die Abgrenzung  machte ja dann Schwierigkeiten. Köln hatte nur die Zuständigkeit für die Deportationen, sonst nichts. Da gab es auch großen Krach mit Dortmund, das wissen Sie wahrscheinlich, wegen der Geiselgeschichten. 

Frage: Der Verfahrenskomplex „Geisel- und Partisanentötungen“ ist ausgetrennt worden?

Holtfort:  Ja, im Nachhinein weiß ich nicht, ob man das nicht besser alles zusammengehalten hätte. Dann hätte man aber mehr Leute haben müssen, viel mehr Leute. Mit diesem Verfahren ist ja dann in Dortmund nichts passiert. 

Frage: Oberstaatsanwalt Schacht[22] hat zahlreiche Vernehmungen durchgeführt und dann eingestellt.

Holtfort: Vernommen worden ist immer viel, es ist immer viel gereist worden [lacht], ganz offen und ehrlich. Bei mir hielt sich das in Grenzen, weil ich unter dem Druck stand, es musste schnell gehen. Wir mussten jetzt die Akten aus Frankreich auswerten, das durften wir ja jetzt. Es hat drei große Auswertungsreisen nach Frankreich gegeben, Schneider, Gehrling und noch verschiedene Leute, einmal waren wir, glaube ich, zu siebt. Wir waren in Bordeaux, wir waren in Lyon, bei den jeweiligen Militärgerichten. Wir bekamen diese Dossiers vorgelegt, Sie kennen die französische Aktenführung, mit „Kördelchen“. Wir haben uns da also „durchgefressen“, und man bekommt nachher eine solche Routine, das man weiß, worauf es ankommt. Man kann das ja nicht alles lesen, das ist unmöglich. Wir haben hunderttausende von Seiten gehabt. Für mich, also für Köln, habe ich gesagt, wenn ich das alles wörtlich übersetzen lasse, ist das viel zu viel. Das hat nämlich Herr Schacht gemacht, der hat einen Übersetzer geholt, der sich eine goldene Nase damit verdient hat, und dabei ist nichts herausgekommen. Wissen Sie, das erste Blatt einer Vernehmung bei den Franzosen, das sind nur Formalitäten, und wenn Sie das ins Deutsche übersetzen, da haben Sie schon die ersten 300 Mark in der Tasche. Deswegen habe ich eine Frau gebeten und gesagt, ich brauche Zusammenfassungen. Das ist natürlich etwas problematisch, ja, ich werde das kontrollieren und überprüfen. Die hat mir zugesagt, dass sie über so viel Kenntnisse verfügt, dass sie das rausfiltern könnte. Das hat auch geklappt und ist ohne weiteres vor Gericht akzeptiert worden. Aber aus diesen ganzen Arbeiten ergeben sich die vier Jahre bis zum Prozess. 

Frage: Zusätzlich zu diesen französischen Militärgerichtsakten sind auch zahlreiche Originaldokumente beschafft worden, beispielsweise aus dem Jüdischen Dokumentationszentrum in Paris … 

Holtfort: … und aus Yad Vashem. 

Frage: Aber noch einmal zurück zur Ausgangsfrage. Wie haben Sie sich den materiellen Kenntnisstand erarbeitet? Denn wenn ich das sagen so darf: Wenn man sich Ihre Sachstandsberichte ansieht und parallel dazu die akademische historische Forschung zu diesem Thema nimmt, dann muss man sagen, dass Sie einen gewaltigen Vorsprung gehabt haben. Sie haben in den 1970er Jahren einen Wissenstand aufbereitet, der erst in den 1990er Jahren von den Universitätswissenschaften eingeholt worden ist. Mich hat immer verblüfft, dass die Justiz viel eher eine breite Kenntnis der Materie gewonnen hatte als die professionelle Historiographie. Wie haben Sie sich in diesen ganzen Sachkomplex eingearbeitet?

Holtfort: Ich habe mich hineingekniet. Was meinen Sie, wie ich jede Vernehmung – am Anfang, als ich die Dokumente bekommen hatte – tagelang vorbereitet habe. Nehmen wir zum Beispiel einen Mann wie Illers. Da habe ich mir das ganze Material zusammengestellt und habe mir jedes Dokument, sei es in deutscher Sprache (das waren ja alles „Beutedokumente“) oder in französischer Sprache, natürlich von vorne bis hinten angesehen. Was ganz wichtig ist, welche Paraphen auf diesen Dokumenten waren. Ich kann Ihnen ein Beispiel erzählen: Im Lyoner Barbie-Prozess[23] war der Verteidiger der Herr Vergès,[24] den viele für einen „Teufel“ hielten. Jetzt müssen Sie sich das so vorstellen: Sie stehen da in einer Kulisse, links und rechts steil hoch sitzen die Nebenkläger und die Presse, und der Angeklagte ist so nahe an Ihnen dran, dass Sie ihm die Hand geben können. Sie stehen da in einem Rondell und können sich festhalten. Vor sich haben Sie das Gericht. So stand er jetzt da, zwei Meter von mir entfernt, er hatte ein Dokument und sagte: „Nun wollen wir doch mal sehen (ich bekam alles übersetzt), ob der deutsche Spezialist, wie er hier überall gehandelt wird, wirklich ein Spezialist ist. Von wem stammt diese Paraphe hier unten auf dem Dokument?“ Und er war sich so sicher, dass er mich in die Pfanne hauen könnte. Dann habe ich mir das angeguckt. Ich wusste sofort, wer es war, aber ich habe ein bisschen Theater gespielt. Ich habe mir das angeguckt und noch einmal angeguckt, dann habe ich nicht ihn angeguckt, sondern ich habe dem Vorsitzenden gesagt: „Es handelt sich um den SS-Untersturmführer Wagner.“[25] Baff! Der Vorsitzende Richter fragte Vergès: „Stimmt das, Herr Verteidiger?“ – „Ja.“ Damit war das also klar. Nur als kleines Beispiel. Ein Raunen ging natürlich durch den Saal. 

Das war also wichtig. Auf diesen Dokumenten sind ja diverse Paraphen, Eingangsstempel und so etwas. Ich musste wissen, wie die zeitliche Abfolge war, wenn da ein Stempel drauf war, der ein paar Tage später war als ein anderer Stempel, dann musste ich wissen, woher das kam. Das sind alles Dinge, mit denen ich mich vorher sehr intensiv auseinandergesetzt habe. Und ich habe auch nicht ein einziges Mal, in keiner Vernehmung, erlebt, dass mir einer der Beschuldigten gesagt hat: „Können Sie mir das zeigen? Das stimmt doch gar nicht.“ Kein einziger Beschuldigter hat je Inhalt oder Echtheit der Dokumente angezweifelt. Das liegt natürlich auch, glaube ich, daran, wie sicher Sie als Vernehmender sind, wenn Sie das präsentieren – nicht wahr, wenn Sie jetzt in folgender Form kämen: „Nun sagen Sie mal, könnte das …“. Ich habe also nicht gesagt: „Kann das Ihre Paraphe sein?“ Sondern ich habe gesagt: „Das ist Ihre Paraphe.“ Und das hat der Betreffende dann auch nicht bestritten. 

Frage: In den Unterlagen in Ludwigsburg habe ich gesehen, dass sich die Staatsanwälte eine Übersicht mit sämtlichen Paraphen von Knochen,[26] Lischka, Laube[27] usw. angelegt haben.

Holtfort: Wie bei Banken, wer unterschriftberechtigt ist, ja, ja. Also noch einmal auf Ihre Frage: Ich habe keine besondere Ausbildung dazu genossen, sondern ich habe mir das selber angeeignet. Ich muss wohl sagen, dass ich mich von frühester Jugend an – als Student – schon immer für diese Materie sehr interessiert habe. Ich bin als Student hier in Köln in den Sachsenhausen-Prozess gegangen und habe mir angesehen, wie schrecklich das ist, was da die Herren Verteidiger vorführten. So dass ich mir gedacht habe: Mein Gott, das sind doch auch Deutsche. Das waren jetzt die „Ofenschieber“, sage ich mal. Nicht die Herren Hagen und andere.

Der Hagen (ich weiß ja nicht, wie es ihm jetzt gesundheitlich geht) war so was von überzeugt bis auf die letzten Tage, das ist unwahrscheinlich, so etwas Fanatisches. Ein Mann der ersten Stunde. Das war ein Mitarbeiter von Eichmann[28] in der Abteilung II 112, nachher II J. – Nein also, da muss ich Ihnen sagen, das habe ich mir das selbst angeeignet. Da haben keine Schulungen stattgefunden. 

Frage: Das hatte ich auch nicht vermutet. Ich habe nur mit Bewunderung festgestellt, mit welcher Akribie die Justiz – in Gestalt Ihrer Person – historische Aufklärung betrieben hat. Wenn man sich das heute ansieht, stellt man fest, welche Menge an Material damals zusammengetragen worden ist.

Holtfort: Ja, und das kriege ich heute, wie gesagt, aufs Butterbrot geschmiert, sozusagen.

Frage: Noch einmal zum Wissensstand – mir ist aufgefallen bei den mehrfachen Zwischenberichten des „Berichterstatters Holtfort“ …

Holtfort: Die Sechsmonatsberichte …

Frage: … da ist mehrmals die Rede von dem Sachverständigengutachten, das Prof. Scheffler[29] schreiben sollte und das immer noch nicht vorlag. Zum Schluss haben Sie mit dem Mut der Verzweiflung geschrieben: Es wird auf dieses Gutachten gar nicht ankommen, wir machen die Anklage ohne Gutachten. Das fand ich sehr bewundernswert, dass Sie sagen: Weitere Aufschlüsse sind von dem Scheffler-Gutachten nicht zu erwarten. Wir haben alles selber ermittelt.

Holtfort: Da könnte ich Ihnen …, also wie gesagt, jetzt lassen wir das hier das Tonbandgerät laufen, aber: der Scheffler, was der sich geleistet hat … Der Scheffler hatte gewisse Leute, die ihm immer wieder auf die Beine geholfen haben: Er konnte es ganz gut mit Streim,[30] Rückerl[31] war vorsichtig, Rückerl war zu integer … Wenn Scheffler Konkurrenz gehabt hätte, wäre er längst nicht so groß rausgekommen. 

Frage: Die Anklage im Verfahren gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn haben Sie am 28.6.1979 erhoben, sie wurde durch Beschluss des Landgerichts Köln am 20.7.1979 bestätigt.

Holtfort: Dazu kann ich Ihnen kurz ein paar Feinheiten sagen. Die Anklage ist erst von der dritten Kammer zugelassen worden. Die erste Kammer …[unverständlich]. Dann ist die Anklage an eine andere Strafkammer gegangen, die war auch nicht besonders motiviert. Als das dann passierte, hat Gehrling gesagt: „Das Ausland drängt, wir machen uns ja lächerlich.“ Das Präsidium hat dann sehr rasch Herrn Faßbender[32] bestimmt und hat ihm gesagt, worauf es bei dieser Sache ankäme. Faßbender hat den Prozess dann in kurzer Zeit, in knapp vier Monaten durchgeführt. Es gab nur eine kleine Stichelei. Ich hatte Haftbefehle beantragt gegen alle drei. Die hat er nicht akzeptiert, weil die drei Angeklagten über so viele Jahre immer schön hiergeblieben und gekommen seien …

Frage: … sie seien sozial gut verankert?

Holtfort: Genau.  Ich meine, der Herr Heinrichsohn war ja Rechtsanwalt, der hat es ja noch nicht einmal für nötig befunden, bis zum Prozess sein Amt niederzulegen. Erst auf Drängen von Strauß hat er sein Amt niedergelegt – in Bayern, Miltenberg, er war ja dort Bürgermeister. Aber vorher hat er das nicht für nötig gehalten. Dann haben wir aber – der Kammer war das wohl mehr oder weniger egal, glaube ich – Beschwerde eingelegt, und die Haftbefehle sind dann …, also nachmittags ist die Beschwerde eingelegt worden und am späten Abend, man kann sagen mehr in der Nacht, hat das Oberlandesgericht die Haftbefehle erlassen. Am nächsten Morgen schon ist dann telefoniert worden, wir haben uns das aufgeteilt, am nächsten Morgen habe ich mich nach Miltenberg aufgemacht, um den Herrn Heinrichsohn zu verhaften, und zwei andere Kollegen die Herren Lischka und Hagen. Den Heinrichsohn hat man mir übertragen als den problematischsten, weil man befürchtete, dass der sich eventuell etwas antun könnte. Ich habe also den Polizeibeamten gesagt: „Das erste, was Sie machen müssen, Sie müssen dem die Pistole abnehmen.“ Ich wusste, dass er eine Pistole hatte. Er hatte noch vorher gesagt: „Wenn ich verurteilt werde, dann nehme ich die Klarsfelds mit.“

Frage: Warum ist der Prozess auf diese drei Angeklagten beschränkt worden, während es doch zunächst über 70 Beschuldigte gab?

Holtfort: Ja, das ist es ja. Ich wollte ein weiteres großes Verfahren aufziehen. Wir mussten bei Lischka voranmachen, das half nichts. Und ihn ganz alleine vor Gericht zu bringen, brachte nichts, weil er mit den zwei anderen zu eng verbunden war – in der Dienststelle, was die Dokumente betraf, die von diesem Schreibtisch zu jenem gingen. Hagen war persönlicher Referent von Oberg und gleichzeitig Vertreter von Lischka. Das war schon gut, diese drei herauszupicken, so dass man sagen konnte: toll gelaufen. Herr Rückerl hat damals gesagt: „Herr Holfort, was haben Sie uns damit geholfen …“

Frage: Wer hat das gesagt?


Holtfort: Herr Rückerl. „Was haben Sie uns damit geholfen in der Bundesrepublik, daß das Verfahren so glänzend gelaufen ist.“ Meine Intention war dann natürlich, die Herren Kommandeure auch anzuklagen.

Frage: Das hätte man nicht in einem Komplex machen können?


Holtfort: Nein, das hätte zu lange gedauert. Dann hätte man die Anklage …, ach, ich weiß nicht. Denn da waren teilweise Leute dabei, z.B. Nährich, deren Fälle hatten einen gewaltigen Umfang. Nährich war ja vorher bei der Militärverwaltung. Oder Kübler, Laube oder solche Leute – das hätte zu lange gedauert. Man hätte natürlich an diese ganzen Sachen von vornherein – was weiß ich – fünf Staatsanwälte setzen können. Ja, und dann hat man es eben zerschlagen. 

Frage: Das begann damals schon vor dem Prozess gegen Lischka und andere? Ich habe einen Vermerk vom September 1979 gefunden, wo Sie bereits andeuten, dass die ersten Austrennungen anfingen. 

Holtfort: Da ist mir das schon anheimgestellt worden, das zu machen, damit ich nach dem Prozess …

[Holtfort liest in den von ihm gefertigten Verfahrensübersichten vom 1.9.1979, 1.3.1980, 1.9.1980 und 3.3.1981]

… Ja, das war also alles schon gegen meinen Willen. Das musste ich zwar machen und konnte mich nicht dagegen wehren. Ich habe aber immer noch gehofft, dass einige Leute angeklagt würden, es sind ja auch etliche übriggeblieben. Aber das Vorgehen entsprach nicht meinen Intentionen. 

Frage: Im März 1981 heißt es in Ihrem Bericht: „Die Austrennungen aus dem Verfahrenskomplex ‚Endlösung der Judenfrage’ in Frankreich sind im Wesentlichen abgeschlossen.“ Also die Austrennungen verliefen im Zeitraum 1979 bis 1981?

Holtfort: Ja, das ist ein sehr unrühmliches Kapitel. Man hat mir nachher, nach der Sache Brunner,[33] so die  Pistole auf die Brust gesetzt, dass man mir monatliche Berichtspflicht auferlegt hat – monatlich, so dass ich gar nicht richtig zum Arbeiten kam, sondern ich musste immer nur berichten. Das ging, glaube ich, zwei-drei Monate. Als dann der Nachfolger das, was noch da war, übernommen hat, wurde die Berichtspflicht sofort aufgehoben.

Nein, das entsprach damals nicht meinen Intentionen. Das war von oben gelenkt. 

Frage: Sie haben dazu ja schon öfter Stellung genommen. Können Sie bitte noch einmal Ihre Einschätzung zusammenfassen? Was sollte mit diesen Austrennungen bezweckt werden? 

Holtfort: Meinen Sie jetzt aus meiner Sicht? 

Frage: Ja, aus Ihrer Sicht. Wie Sie das kritisch beurteilen.

Holtfort: Diese Austrennungen bedeuteten, dass der Gesamtkomplex jetzt zerschlagen wurde. Das Wissen, das man hatte, ging verloren. Ich kannte ja nun die Leute alle, ich hatte sie ja vernommen. Nun gingen die ganzen Verfahren an Staatsanwaltschaften, die – wie ich später erfahren habe –  nichts daraus gemacht haben. Da ist ja nichts draus geworden. 

Frage: Das Verfahren gegen Laube u.a. beispielsweise ging nach Stuttgart, dort hat es die Staatsanwaltschaft eingestellt; dann blieb Illers übrig, das hat man nach Oldenburg, nein nach Aurich weitergegeben.

Holtfort: Also dieser Zeitpunkt hier … [verweist auf die Verfahrensübersichten von 1979 bis 1981], das weiß ich, dass Herr Gehrling das damals auf einer Besprechung gesagt hat. Ich kenne den Vermerk. Es wurde ja schon vorher ausgetrennt. Aber hier sehe ich doch „1.9.1980“? Das ist also nach dem Urteil. 

Frage: Die erste Erwähnung der Austrennungen ist, glaube ich …

Holtfort: 3.3.1981 ist noch später. Da habe ich mich  schon massiv, auch öffentlich, gegenüber Pfromm gewehrt. Das ist also hier diese Formulierung mit dem Wohnsitz … 

Frage: Hier, wenn Sie in dem Bericht vom 1.9.1979 im unteren Absatz lesen. Da ist von einer Dienstbesprechung die Rede.

Holtfort: Da war ich ja nicht dabei. 

[Holtfort liest den folgenden Absatz:

„Die weitere Sachbehandlung des Verfahrenskomplexes war Gegenstand einer mit dem Leiter der Zentralstelle Anfang Juli 1979 bei der Generalstaatsanwaltschaft geführten Dienstbesprechung. Danach sollen aus dem Gesamtkomplex die Verfahren gegen die Angehörigen der einzelnen KdS-Dienststellen  ausgetrennt und an die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben werden, sofern nicht für die weitere Bearbeitung aufgrund des Wohnsitzes des Beschuldigten eine Zuständigkeit der hiesigen Zentralstelle gegeben ist.“

Frage: Das heißt, es war schon zu einem frühen Zeitpunkt beschlossene Sache, dass die Verfahren ausgetrennt werden?

Holtfort: Ja, ja, 1.9.1979.

Frage: Also schon vor dem Prozess?

Holtfort: Ja, vor dem Prozess, aber unmittelbar vorher. Wissen Sie zufälligerweise, wann Prozessbeginn war? Das war doch im Oktober. Also es ist unmittelbar davor. Ich glaube, im Oktober 1979 hat die Hauptverhandlung angefangen. Oder November, ich meine vier Monate. Unmittelbar davor war das …, und an dieser Besprechung hier, daran wollte ich ja  teilnehmen. Da hat man mich außen vor gelassen.

Frage: War das dann nach dem Prozess nochmals ein neuer Schritt, dass dann das Verfahren gänzlich zerschlagen wurde, oder war das die Fortführung …?

Holtfort: Nein, das war die Fortführung. Möglicherweise hat Pfromm sich gesagt, das haben wir ja nun besprochen. Jetzt hat er [d.h. Holtfort] erst einmal vier Monate Ruhe durch das Verfahren. Pfromm hat ja auch anerkannt, dass das gut gelaufen ist, das hat er in einem Schlenker zum Ausdruck gebracht und dann hat er noch einmal darauf hingewiesen, dass jetzt die noch anhängigen Verfahren alsbald auszutrennen wären. 

Das hier jedenfalls zeigt [er verweist auf den Bericht vom 1.9.1979] …, man hat die Dinge nicht mehr so parat, man müsste das eigentlich vom Datum her viel näher an den Prozessbeginn herannehmen Jedenfalls war die Tendenz schon da, auszutrennen.

Frage: Das macht es interessant.

Holtfort: Ja. Nämlich danach, könnte man sagen, lief ja erst einmal vier Monate der Prozess. Da lief ja gar nichts mit Austrennen. Und dass Pfromm sich nach dem Prozess persönlich an mich gewandt hat, das ist ja auch eine Besonderheit  für einen Generalstaatsanwalt. Das wird wahrscheinlich so ein Mix gewesen sein: Einer muss das dem Jungen ja mal sagen. Der Lischka-Prozess hat ja, wie soll ich sagen, ein unwahrscheinlich positives Echo in der Weltpresse gefunden. So viel Lob hat die Justiz in Nordrhein-Westfalen ja noch nie vorher bekommen. Und bei der Gelegenheit, nehme ich an, hat Pfromm dann noch einmal die Gelegenheit ergriffen, auf das hier [Bericht vom 1.9.1979] – auf diese Intention der Austrennung weiterer Verfahren hinzuweisen. Aber die Intention war vorher da. Das habe ich ja nie gelten lassen. Mich hat man immer glauben machen wollen, auch Gehrling, dass das schon viel früher der Fall gewesen war. Das wäre ja etwas anderes. Da hätte ich ja unter Umständen sagen müssen, das mache ich nicht, wenn ich es gekonnt hätte – ich weiß es nicht, als kleiner Staatsanwalt, ob Sie sich dagegen wehren können. Aber das hier ist im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Prozess zu sehen.  Gerade die Formulierung mit den „örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften“. [Verbitterte Reaktion]

Frage: Der einzige größere Prozess, der dann noch stattgefunden hat, ist das Verfahren gegen von Korff in Bonn gewesen. Da haben Sie die Anklage erhoben?

Holtfort: Ja, da habe ich die Anklageschrift gemacht. Da habe ich böse Dinge erlebt. 

Frage: Möchten Sie darüber berichten?

Holtfort: Das war ein ganz voreingenommenes Gericht. Das einzig Positive, was dabei herausgekommen ist, war der Auftritt des Herrn Dr. Best[34] – als Zeuge. Der hat versucht, den Herrn Modest Graf von Korff  etwas unter seine Fittiche zu nehmen. Gemessen an dem, was Best früher war, war Korff ein kleines Männlein, aber jetzt nach dem Krieg war er immerhin auch schon etwas, er war ja Ministerialrat. Und Best war Ruheständler. Der hat da vom Leder gezogen …

Frage: In seinem eigenen Verfahren wurde Best für verhandlungsunfähig erklärt, aber er hat in zahlreichen anderen Prozessen als Entlastungszeuge ausgesagt, nicht wahr?

Holtfort: Ja, das weiß ich nicht. Jedenfalls in dem Verfahren hat er es getan, das war sein großer Fehler. Ich habe eifrig mitgeschrieben und dieses Protokoll über seine Vernehmung meinem Vorgesetzten gegeben und gesagt, dieser Mann ist für mich nicht verhandlungsunfähig. Geistig ist der so toll, auch gesundheitlich. Der hat noch nicht einmal gesagt: „Darf ich mich mal setzen“, oder einen Schluck Wasser verlangt – gar nichts. Er hat eine richtige Show abzogen, wie das eben so ein Polizeipräsident tut – mit 25 Jahren war er das, im Schwäbischen irgendwo …

Frage: … im Hessischen. In Wiesbaden.

Holtfort: Im Hessischen? Also jedenfalls hat er eine ganz tolle Karriere gemacht. Der Vermerk wurde dann …, erst mal so: „Wollen Sie das wirklich machen?“ Ich sagte: „Ja, ich bestehe darauf. Der tritt hier auf und ist angeblich nicht verhandlungsfähig.“ Es gab ja eine Anklage gegen Best, über tausend Seiten, Einsatzgruppen-Prozess. Dann hat man sich schweren Herzens entschlossen, das nach Düsseldorf zu übergeben, und das hat dazu geführt, dass man das Verfahren wieder eingeleitet hat. Und ich glaube vierzehn Tage vor Beginn der Hauptverhandlung ist Best gestorben. 

Frage: Ich meine 1989.

Holtfort: Von Korff ist freigesprochen worden. Nährich, der wäre schon eher dran gewesen. Nährich, Best und Ernst – Waldemar Ernst,[35] die waren doch weitaus mehr belastet …  

Frage: Das ist also das einzige Nachfolgeverfahren aus diesem Komplex geblieben. Alle anderen Verfahren sind eingestellt worden? 

Holtfort: Wie gesagt, bei der fraglichen Besprechung war ich nicht dabei. Da war der Herr Röseler mit, da wäre ich gerne dabei gewesen. Als er wiederkam, hat er zu mir gesagt: “Jetzt, Herr Holtfort, werden wir bekannt in der Bundesrepublik.“ [Lacht]

Frage: Warum? Wegen der Austrennung? Ach so, durch die Streuung der Verfahren?


Holtfort: Ja genau, durch die vielen ausgetrennten Verfahren. [Lacht]

Frage: Gibt es eigentlich von den Dienstbesprechungen auch Protokolle?

Holtfort: Bei der Zentralstelle Köln nicht. Ob es die beim Generalstaatsanwalt gibt, weiß ich nicht.

Frage: Das ist ja eine wichtige Besprechung gewesen. 

Holtfort: Es könnte sein, das die noch Protokolle haben. 

Frage: Sie sagen bitte, wenn wir aufhören sollen?

Holtfort: Ich führe nicht jeden Tag so ein qualifiziertes Gespräch. Mir sind die Gesprächspartner ein bisschen ausgegangen, das können Sie sich ja denken. Mein Anwalt meint mahnt mich zwar immer, ich sollte ein Buch schreiben. Er hat auch schon einen sehr schönen Arbeitstitel: „Der verfolgte Verfolger“ [lacht]. Das ist ein bisschen hart vielleicht. 

Aber das ist eine Sache, dieser Frankreich-Komplex – da muss man bis ins Justizministerium gehen. Da waren zu viele Leute …, ich will jetzt noch nicht einmal sagen, dass das Nazis waren. Es bestanden zu viele Anhängigkeiten. Auch Pfromm hat zu viele Abhängigkeiten geschaffen. Man weiß ja, was solche Leute wie er [als NS-Führungsoffizier] für eine Aufgabe hatten, was sie machen sollten: Er sollte an die Front fahren, sollte da eine stramme Rede halten und anschließend wieder ins Hinterland. Sie kennen ja das Gutachten von Herrn Niermann.[36] Der ist wenigstens bereit zu sagen, dass Pfromm eine etwas zwielichtige Figur war und dass man da noch aufklären musste. Und er konzediert auch, dass ich der Sachkenner in dieser Materie wäre. Aber dass das letztlich ein Mann war, der niemals Leiter der Zentralstelle und damit Dienstvorgesetzter hätte werden dürfen – das sagt er nicht.

Man sagt immer, das ist jetzt eine andere Generation im Ministerium. Wenn man auf Tagungen ist, man hört immer wieder: Nordrhein-Westfalen ist ein Gebiet für sich, wie die mit den NS-Verfahren umgehen. Das ist mir unerklärlich, ein Bundesland, das doch jetzt schon über viele Jahrzehnte sozialdemokratisch regiert wird. Das verstehe ich einfach nicht. Das kann doch nur daran liegen, dass man sagt,  wir praktizieren eine gewisse Kameraderie und wir lassen es nicht zu, dass Leute wie Herr Pfromm mit Dreck beworfen werden – also aus der Sicht der Ministerialbürokratie. Nordrhein-Westfalen sollte doch eigentlich federführend sein, mit zwei Zentralstellen. Gucken Sie sich das einmal an mit Dortmund, es ist zum Weinen, zum Beispiel das Malloth-Verfahren[37]. Weise und Schacht sind ja ganz eng liiert. Ich habe die beiden zusammen erlebt. Weise, damals der jüngere Generalstaatsanwalt, musste die ganze Schuld auf sich nehmen und schob nicht übersetzte italienische Protokolle vor. Er hat im Fernsehen Krokodilstränen vergossen, wie so ein begossener Pudel saß er da. Ich wundere mich, dass der das gemacht hat. Wahrscheinlich hat der Minister verlangt, das soll der Generalstaatsanwalt machen, nicht der Herr Schacht. Schacht hat sich übrigens die ersten Informationen über Frankreich bei mir geholt. Der hatte keine Ahnung von diesen Dingen. 

Frage: Was mich bei den Einstellungen durch Schacht so empört, ist vor allem, daß er die Sprache und Argumentation der Täter selbst aufnimmt und wiederholt. So etwa bei den „Sühnemaßnahmen“ zur Bekämpfung des französischen Widerstands. Da greift Schacht auf den pseudojuristischen Rahmen zurück, den sich die Militärverwaltung in Frankreich selbst geschaffen hatte, um die Geiselmorde rechtsförmig abzudecken. Es gibt eine Einstellungsverfügung, in der die Verlesung der Kriegsstrafverfahrensordnung vor der Erschießung von „Geiseln“ als Begründung dafür genommen wird, dass keine grausame Vorgehensweise vorgelegen habe. Und das Anbringen von „Herzscheiben“ zur zielsicheren Tötung der Opfer wurde – nach der Zeugenaussage eines Sanitätsoffiziers – von Schacht als Beweis für das Nichtvorliegen einer grausamen Handlung gewertet. Eine fürchterliche Begründung. Natürlich hatte Herr Schacht mit einer sehr schwierigen Rechtsmaterie zu kämpfen, denn bekanntlich war und ist die Frage der Zulässigkeit von Geiselhinrichtungen völkerrechtlich umstritten. 

Holtfort: Aber man hätte das vielleicht doch besser im Verfahren zusammen lassen sollen. Ich bin immer dagegen, dass man eine solche Zäsur macht. Man hätte ja bei den Leuten, die mit diesen Deportationsmaßnahmen zu tun hatten, in subjektiver Hinsicht noch ganz andere Dinge mit einarbeiten können; dass das also auch bei den Betreffenden sachlich wie im Innersten zu einer Unrechtsüberzeugung führen musste.

Frage: Sie berühren einen zentralen Punkt. Für die Geiselerschießungen wurden vorzugsweise in einem hohem Prozentsatz Juden ausgewählt. Man hätte ja immerhin die Frage stellen können, wenn die Deutschen schon in Frankreich als „Sühnemaßnahme“ Juden erschießen lassen, was sie dann eigentlich glauben, was mit den Juden passiert, die zum Zweck von „Sühnemaßnahmen“ in den Osten deportiert wurden. 

Holtfort: Ja, ich sage ja, diese Zäsur, die man da gemacht hat, war für die Aufarbeitung schlecht. War nicht damals Herr Kelkel, der in Köln empfohlen hat, den Komplex nach Dortmund abzugeben? Er hat einen Riesenbericht geschrieben. Das ist ja auch mein Problem gewesen. Es war immer die Tendenz in den Zentralstellen, auch in Köln, die unangenehmen Dinge „abzudrücken“. Nicht wirklich mit dem Impetus heranzugehen: Hier sind so schlimme Dinge passiert, hier müsste man auch einmal richtig aufklärend tätig werden. Natürlich genießt ein Jurist Anerkennung, dem es gelingt, ein ganz unangenehmes Verfahren an eine andere Staatsanwaltschaft elegant „abzudrücken“ – vielleicht bekommt der von seinem Vorgesetzten noch ein Lob: Das hast Du gut gemacht. Ich sage jetzt mal, das kann man ja vielleicht bei gewissen Totschlags- oder Wirtschaftsverfahren gelten lassen. Aber hierbei lasse ich das nicht gelten. Da stehe ich auf dem Standpunkt, dass das schadet. Das schadet in dem Maße, dass man es nicht mehr wieder gut machen kann – nie mehr. Aus diesen Verfahren, die ausgetrennt worden sind, ist nichts geworden, da hatte keiner Lust, wirklich etwas daraus zu machen.  

Wissen Sie zufällig, ein Herr Goll[38] aus Stuttgart, ist das der jetzige Justizminister? Das möchte ich gerne wissen, weil ich nämlich an den auch Verfahren abgegeben habe. Die Stuttgarter waren ja auch immer noch etwas rühriger als die anderen, meine ich. Zum Beispiel Schrimm,[39] nicht wahr. 

[Im Gespräch bei der Verabschiedung erwähnt Herr Holtfort noch die anhängigen Verfahren gegen Alois Brunner[40] in Frankfurt und Köln; letzteres, das die Tätigkeit Brunners in Frankreich betrifft, hat Holtfort seinerzeit nach Köln geholt. Brunner wurde 2001 in Frankreich in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt; er starb vermutlich 2009 unbehelligt in Syrien. Ein gegen ihn vorliegender Haftbefehl des Amtsgerichts Köln wurde erst 2022 aufgehoben.]  

Das Gespräch wurde geführt von Ahlrich Meyer und Andreas Disselnkötter. 


[1] Moritz, August, SS-Obersturmführer, Abteilung VI (Nachrichtendienst) der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (im Folgenden Sipo-SD) Paris; stellvertretender Kommandeur der Sipo-SD Orléans und Marseille; Leiter der Abteilung VI beim Kommandeur der Sipo-SD Lyon.

[2] Illers, Heinrich, SS-Hauptsturmführer, stellvertretender Kommandeur der Sipo-SD Paris und Leiter der Abteilung IV (Gestapo); nach 1945 Senatspräsident beim Landessozialgericht Niedersachsen in Celle.

[3] Pfromm, Werner, Generalstaatsanwalt, Leiter der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Köln.

[4] Globke, Hans, Mitverfasser und Kommentator der „Nürnberger Gesetze“ zur Diskriminierung der Juden; ab 1953 Chef des Bonner Kanzleramts unter Bundeskanzler Adenauer.

[5] Bargatzky, Walter, Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers in Frankreich, Abteilung Vju (Justiz), persönlicher Referent des Chefs des Verwaltungsstabs; nach 1945 Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, später Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

[6] Speidel, Hans, General, Chef des Kommandostabs beim Militärbefehlshaber in Frankreich; nach 1945 militärischer Berater von Bundeskanzler Adenauer, ab 1957 Nato-Oberbefehlshaber der alliieren Landstreitkräfte in Mitteleuropa.

[7] Kaup, Kriminalhauptmeister, Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen; führte bei den Frankreich-Verfahren zahlreiche Vernehmungen durch, oft zusammen mit Holtfort.

[8] Nährich, Walter, SS-Obersturmführer, Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers in Frankreich, Abteilung Vpol (Polizei); Leiter der Abteilung II Pol (Polizei) des Befehlshabers der Sipo-SD Frankreich; stellvertretender Kommandeur der Sipo-SD Bordeaux und Rouen.

[9] Köhnlein, Friedrich, Meister der Schutzpolizei, fungierte als Bewacher von Judentransporten aus Frankreich nach Auschwitz.

[10] Bilharz, Rolf, SS-Oberscharführer, Angehöriger des „Sonderkommandos Brunner“ (s. Anmerkung 33).

[11] Korff, Modest Graf von, SS-Hauptsturmführer, Kommandeur der Sipo-SD Châlons-sur-Marne. Ein Verfahren gegen ihn vor dem Bonner Landgericht endete 1988 mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen.  

[12] Freise, Richard, SS-Hauptsturmführer, stellvertretender Kommandeur der Sipo-SD Poitiers; Abteilung II Pol (Polizei) des Befehlshabers der Sipo-SD Frankreich. 

[13] Heydrich, Reinhard, Chef des Reichssicherheitshauptamts Berlin.

[14] Oberg, Karl, Höherer SS- und Polizeiführer in Frankreich.

[15] Schneider, Dr., Oberstaatsanwalt, stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg.

[16] Kelkel, Staatsanwalt in Köln.

[17] Plümpe, Dr., Staatsanwalt in Köln.

[18] Gehrling, Oberstaatsanwalt in Köln.

[19] Achenbach, Ernst, Leiter der Politischen Abteilung der Deutschen Botschaft Paris; nach 1945 Rechtsanwalt, FDP-Abgeordneter, zeitweilig Berichterstatter des Bundestagsausschusses für das deutsch-französische Zusatzabkommen über die Verfolgung von NS-Verbrechern. 

[20] Mitterand, François, 1981 bis 1995 französischer Staatspräsident.

[21] Schmidt, Helmut, 1974 bis 1982 Bundeskanzler.

[22] Schacht. Oberstaatsanwalt, Leiter der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund.

[23] Barbie, Klaus, Leiter der Abteilung IV (Gestapo) des Kommandos der Sipo-SD Lyon; 1947 in Abwesenheit in Lyon zum Tode verurteilt, Arbeit für den amerikanischen und später für den westdeutschen Geheimdienst, 1951 unter dem Namen Klaus Altmann Flucht nach Bolivien, 1983 nach Frankreich ausgeliefert, 1987 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Lyon zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 

[24] Vergès, Jacques, französischer Rechtsanwalt, Verteidiger Barbies im Lyoner Prozess.

[25] Näheres nicht ermittelt.

[26] Knochen, Helmut, SS-Standartenführer, zunächst Beauftragter des Chefs der Sipo-SD, Dienststelle Paris, dann Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Frankreich.

[27] Laube Horst, Leiter der Abteilung II Pol (Polizei) des Befehlshabers des Sipo-SD Frankreich.

[28] Eichmann, Adolf, SS-Obersturmbannführer, zunächst Mitarbeiter der Abteilung II 111 (Judentum) des Hauptamts Sicherheitspolizei, dann Leiter der Abteilung IV B 4 des Berliner Reichssicherheitshauptamts, Organisator der Verfolgung und Deportation der Juden in allen von Deutschland besetzten oder mit Deutschland verbündeten europäischen Ländern; 1961 in Jerusalem zum Tode verurteilt und hingerichtet.

[29] Scheffler Prof. Dr., Wolfgang, deutscher Holocaust-Historiker. 

[30] Streim, Alfred, Oberstaatsanwalt, ab 1984 Leiter der Zentralen Stelle des Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg.

[31] Rückerl, Adalbert, Oberstaatsanwalt, ab 1966 Leiter der Zentralen Stelle des Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg.

[32] Faßbender Dr., Heinz, Schwurgerichtsvorsitzender im Prozess gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn.

[33] Brunner, Alois, SS-Hauptsturmführer, ab 1943 Eichmanns Vertreter in Frankreich und Leiter des Deportationslagers Drancy; 1954 Flucht nach Syrien, u.a. Arbeit für den westdeutschen Geheimdienst. 

[34] Best Dr., Werner, Stellvertreter Heydrich und Leiter des Amts I des Berliner Reichssicherheitshauptamts, 1940 bis 1942 Leiter der Abteilung Verwaltung des Verwaltungsstabs des Militärbefehlshabers in Frankreich, später Reichsbevollmächtigter in Dänemark; nach 1945 Justitiar des Hugo-Stinnes-Konzerns, mehrere Strafverfahren gegen ihn scheiterten oder wurden wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. 

[35] Ernst, Waldemar, Leiter der Abteilung Vpol (Polizei) im Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers in Frankreich.

[36] Niermann, Hans-Eckhard, Münsteraner Historiker.

[37] Anton Malloth war als SS-Aufseher in der Kleinen Festung Theresienstadt verantwortlich für Folter mit Todesfolge. Als er 1988 von Italien nach Deutschland ausgeliefert wurde, weigerte sich die Dortmunder Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen. 

[38] Der FDP-Politiker Ulrich Goll war wiederholt Justizminister in Baden-Württemberg; ein Staatsanwalt Goll konnte nicht ermittelt werde.

[39] Schrimm, Kurt, Staatsanwalt in Stuttgart, ab 2000 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg.

[40] Siehe Anm. 33.

Interview mit Holtford (Download)

Auszug aus dem Anklagesatz, von Rolf Holtfort
am ersten Verhandlungstag verlesen:

[…] [Lischka, Hagen und Heinrichsohn] werden angeklagt, in der Zeit vom März 1942 bis Mai 1944 in Frankreich zu der vorsätzlichen und rechtswidrigen, grausam, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangenen Tötung vorsätzlich Hilfe geleistet zu haben. In Ausführung der von Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und anderen aus rassischen Gründen erteilten Befehle zur Vernichtung des europäischen Judentums sind in der Zeit von März 1942 bis Mai 1944 aus dem Bereich des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich mindestens 73.000 jüdische Menschen in insgesamt 73 Eisenbahntransporten überwiegend in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort zum größten Teil in Gaskammern durch das Gas Zyklon B getötet worden. Den Opfern wurde bei ihrer Festnahme vorgetäuscht, sie kämen zu dem Arbeitseinsatz in den Osten. Dadurch wurde erreicht, dass sie ohne ernsthaften Widerstand den Anordnungen der Sicherheitsbeamten und der SS Folge leisteten. Noch im Lager wurde ihnen erklärt, dass sie gebadet würden und sie dann zu arbeiten hätten. Sie wurden dann nackt und ahnungslos in den Vergasungsraumraum hineingetrieben, der von außen verriegelt wurde. Das alsdann in die Gaskammer hineingeleitete Zyklon-B-Gas entwickelte durch die Verbindung mit der Luft tödliche Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen nach einigen Minuten qualvoll und unter Todesangst erstickten. Ihre Tötung erfolgte aus Rassenhass unter Verachtung aller Grundsätze der Menschlichkeit. Den Angeschuldigten wird zur Last gelegt, durch ihre Mitwirkung an den Deportationen nach Auschwitz die von der NS-Führung geplante und in dem Konzentrationslager Auschwitz durchgeführte Vernichtung jüdischer Menschen gefördert zu haben.
[…] Die Angeschuldigten sind hinreichend verdächtig, die Pläne der NS-Führung um die Vernichtung der jüdischen Menschen in Europa und die Bedeutung des Begriffs „Endlösung der Judenfrage“ gekannt, zumindest aber mit der Möglichkeit der Tötung der deportierten Juden ernsthaft gerechnet und trotzdem einverständlich an den Deportationsmaßnahmen mitgewirkt zu haben. Sie kannten das gewaltige Ausmaß der Deportationen und deren Begleitumstände, die deutliche machten, dass die Deportierten in Auschwitz, dem Endziel der Transporte, einem grausamen Schicksal entgegengingen. […]

(Quellennachweis: HStaD, Außenstelle Kalkum, Rep. 267 Nr. 260, S. 7143-45.)

In der Folgezeit wurden auch Kinder in die Deportationen einbezogen. So teilte RÖTHKE dem RSHA (Reichssicherheitshauptamt) am 14.8.1942 fernschriftlich mit, daß der Transportzug Nr. B 901/14 den Abgangsbahnhof Le Bourget-Drancy in Richtung Auschwitz verlassen habe, „darunter erstmalig Kinder“. Hierbei handelte es sich um den am 16.8.1942 in Auschwitz eingetroffenen Transport. In einem Vermerk vom 13.8.1942 berichtete RÖTHKE, daß „die aus dem unbesetzten Gebiet eintreffenden Juden … in Drancy mit Judenkindern … vermischt werden in der Weise, daß auf 700, mindestens jedoch 500 erwachsene Juden 300 bis 500 Judenkinder zugeteilt werden, da nach der Weisung des Reichssicherheitshauptamtes Züge nur mit Judenkindern nicht abgeschoben werden dürfen …“.

Besonders hoch war der Anteil der Kinder bei den Transporten vom 17., 19., 21. und 24.8.1942. Es handelte sich hierbei überwiegend um Kinder, die bei der Großrazzia am 16./17. Juli 1942 festgenommen worden waren und deren Trennung von den Eltern bereits geschehen war. So befanden sich beispielsweise unter den 1.000 Juden, die mit Transport Nr. 23 am 24.8.1942 nach Auschwitz deportiert wurden, 553 Kinder unter 17 Jahren. Beim Transport Nr. 22 vom 21.8.1942 befanden sich unter den 1.000 Juden 275 Mädchen und 269 Jungen unter 14 Jahren. Von diesen 545 Kindern waren 11 Kinder zwei Jahre alt, 23 drei Jahre, 23 vier Jahre, 21 fünf Jahre, 26 sechs Jahre, 47 sieben Jahre, 45 acht Jahre, 50 neun Jahre, 72 zehn Jahre, 70 elf Jahre, 77 zwölf Jahre, 51 dreizehn Jahre und 18 vierzehn Jahre.

Daß bei alledem das bei einer Dienstbesprechung am 11.6.1942 im EICHMANN-Referat in Berlin, an der von Paris DANNECKER teilgenommen hatte, festgelegte Soll von 100.000 Juden beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 40 Jahren aus dem besetzten und unbesetzten Frankreich nicht annähernd und in dem oben aufgezeigten Umfange auch nur unter Aufgabe der Altersbeschränkung erreicht werden konnte, ist in erster Linie auf den Widerstand der Vichy-Regierung zurückzuführen, die sich weigerte, Juden mit französischer Staatsbürgerschaft in die Deportationsmaßnahmen einzubeziehen.“

(Quellennachweis: HStaD, Außenstelle Kalkum, Rep. 267 Nr. 260, S. 7143-45.)

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