Der Lischka Prozess
„Das Schlimmste, was ich gesehen habe, waren Säuglinge von 16 Tagen. Sie wurden alle abtransportiert.“
George Wellers
In den letzten Tagen des Monats Juli und Anfang August werden in Pithiviers und Beaune-la-Rolande die Eltern von ihren Kindern unter 13 Jahren getrennt. In vier Transporten – am 31. Juli, 3., 5. und 7. August werden die 12- bis 16-Jährigen deportiert, während die 4000 zwei- bis zwölfjährigen Kinder allein ihrem Schicksal überlassen bleiben.
Tragische Szenen haben sich abgespielt, als man die Mütter von ihren Kindern trennte, heißt es in einem nicht erlaubten Flugblatt. Die Gendarmen setzten die Trennungen mit Gummiknüppeln durch und verschonten dabei nicht einmal die Kinder. Fast alle Frauen tragen deutliche Spuren von diesen Schlägen. Da sie revoltierten und sich weigerten, sich von ihren Kindern zu lösen, wurden sie mit heftigen Stößen und unter Todesdrohungen in die Autobusse gepfercht. Die zwei- bis dreizehnjährigen Kinder, ungefähr 5000, bleiben allein zurück; hungrig, im Schmutz liegend, sterben sie wie die Fliegen. Sie werden mit Nummern versehen, die jetzt ihren Namen ersetzen.
Erst am 13. August, fast einen Monat nach der Razzia, wurde das Los dieser Waisen durch die Zustimmung Berlins zur Deportation geregelt. In der zweiten Augusthälfte wurden sie nach Drancy gebracht, in Transporten zu jeweils tausend, zusammen mit 200 fremden Erwachsenen, die unter den Häftlingen ausgesucht worden waren.
Nachstehend wird berichtet, was Professor Georges Wellers damals miterlebt hat und was er später vor Gericht in Jerusalem im Eichmann-Prozess in seiner Eigenschaft als französischer Zeuge in Erinnerung rief (siehe G. Wellers, De Drancy à Auschwitz, S. 55–58):
„Während der zweiten Augusthälfte hat man 4000 elternlose Kinder nach Drancy gebracht. Sie waren zwei bis zwölf Jahre alt. Sie wurden aus den Autobussen mitten im Hof ausgeladen, wie kleine Tierchen. Die Autobusse mit den Polizisten fuhren bis zu den Plattformen vor, die Stacheldrähte wurden von einer Gruppe Gendarmen überwacht. Die Kinder stiegen aus den Autobussen, die Größeren nahmen die Kleineren bei der Hand und ließen sie auf dem Weg zu ihren Räumen nicht mehr los. Auf der Treppe nahmen die Größeren die Kleineren auf den Arm und stiegen keuchend bis zum vierten Stockwerk. Dort blieben sie ängstlich beieinander wie ein ängstliches Häuflein stehen, nur zögernd ließen sie sich auf die vor Schmutz starrenden Matratzen fallen. Die meisten fanden ihr Gepäck nicht mehr wieder. Die kleine Anzahl derer, die geistesgegenwärtig genug gewesen waren, es beim Aussteigen aus den Autobussen mitzunehmen, stand jetzt mit ihrem unförmigen Gepäck unbeholfen herum. Inzwischen staute man andere kleine Habseligkeiten im Hof auf, nach dem Abladen kamen die Kinder in den Hof herunter, um sich ihre Sachen zu holen. Diese kleinen Pakete ohne Namen waren schwer auseinanderzuhalten, und die Vier-, Fünf- und Sechsjährigen gingen zwischen ihnen auf und ab und glaubten jedes Mal, ihr Eigentum wiedererkannt zu haben. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gaben sie es auf, blieben auf dem Hof stehen und wussten nicht, was tun. Diejenigen, die sich in ihre Räume zurückbegeben wollten, wussten nicht mehr, in welche sie gehörten. Dann sagten sie sehr höflich mit sanfter und flehender Stimme: ‚Mein Herr, ich weiß nicht, wo meine kleine Schwester geblieben ist, vielleicht hat sie Angst, allein zu bleiben.‘ Dann nahm man die Größeren bei der Hand, die Kleineren auf den Arm und ging mit ihnen durch die Räume der drei verschiedenen Stockwerke, bis man die kleine Schwester oder den kleinen Bruder wiedergefunden hatte. Das Wiederfinden war dann von einer Zärtlichkeit, wie nur Kinder im Unglück es ausdrücken können. Die Kinder befanden sich zu hundert in einem Raum. Man stellte ihnen Eimer auf den Treppenflur, viele unter ihnen konnten nicht die unbequemen hohen Treppen zu den Toiletten hinuntergehen. Die Kleineren, die nicht in der Lage waren, sich allein dorthin zu begeben, warteten hoffnungsvoll auf die Hilfe einer willigen Frau oder eines anderen Kindes. Das war zur Zeit der Kohlsuppe in Drancy. Sehr bald bekamen alle Kinder entsetzlichen Durchfall. Sie beschmutzten ihre Kleidung, die Matratzen, auf denen sie Tag und Nacht herumlagen.
Jede Nacht hörte man am anderen Ende des Lagers die Kinder ununterbrochen verzweifelt weinen, und von Zeit zu Zeit die Rufe und das schrille Geschrei von Kindern, die sich nicht mehr zurückhalten konnten. Sie blieben nicht lange in Drancy. Zwei bis drei Tage nach ihrer Ankunft verließ die Hälfte der Kinder das Lager zur Deportation zusammen mit 500 fremden Erwachsenen. Zwei Tage später wurde die zweite Hälfte abtransportiert. Am Vorabend der Deportation wurden die Kinder durchsucht wie alle anderen. Die zwei- bis dreijährigen Jungen und Mädchen gingen mit ihrem kleinen Gepäck in die Durchsuchungsbaracken, wo die Inspektoren der ‚Police aux Questions Juives‘ (antijüdische Polizei) sorgfältig das Gepäck durchsuchten und sie dann mit ihren aufgemachten Bündeln entließen. Die kleinen Broschen, Ohrringe und Armbänder der Mädchen wurden von der antijüdischen Polizei beschlagnahmt.
Am Tage der Deportation wurden die Kinder um fünf Uhr früh geweckt, man zog sie im Halbdunkel an. Oft war es sehr kühl um fünf Uhr früh, aber fast alle Kinder kamen sehr leicht angezogen auf den Hof herunter. Durch das plötzliche Aufwecken mitten in der Nacht und schlaftrunken fingen die Kinder zu weinen an und nach und nach weinten sie alle. Sie wollten nicht auf den Hof hinunter, schlugen um sich und ließen sich nicht ankleiden. Manchmal wurde ein Raum mit 100 Kindern von panischer Angst ergriffen und hörte nicht mehr auf die Beschwichtigungsworte der Erwachsenen, die unfähig waren, die Kinder auf den Hof hinunterzubringen; man holte dann die Gendarmen, die die vor Entsetzen schreienden Kinder auf ihren Armen hinuntertrugen.
Auf dem Hof warteten sie, bis sie gerufen wurden; oft antworteten sie falsch beim Aufruf der Namen. Die Älteren nahmen die Jüngeren bei der Hand und ließen sie nicht los. Bei jedem Transport wurde eine gewisse Anzahl Kinder zur Vervollständigung hinzugefügt, das waren Kinder, deren Namen unbekannt waren. Auf diese Weise sind innerhalb von zwei Wochen 4000 elternlose Kinder aus Drancy deportiert worden. Man braucht sich jetzt nur noch die Reise durch ganz Europa dieser kleinen Kinder in den jämmerlich überfüllten Transportzügen vorzustellen, die Ankunft der Überlebenden in Auschwitz, das Ausladen aus den Zügen inmitten der bewaffneten SS-Leute mit ihren riesigen bellenden Polizeihunden, die auf die Kinder einschreien, ihr Gang zu den Gaskammern, ihre schrecklichen Opfer, die angetan sind, einen auf ewig unauslöschlichen Hass zu schüren.“
Georges Wellers, geboren am 2. Januar 1905 in Russland, gestorben am 3. Mai 1991 in Paris, war Historiker und Chemiker. 1941 wurde er über das Transferlager Compiègne in das Lager Drancy gebracht. Von dort wurde er am 30. Juni 1944 mit dem Konvoi 762 nach Buchenwald deportiert. Nach der Befreiung des Lagers kehrte er nach Paris zurück und arbeitete für das Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) als Historiker der Shoah.
Als Präsident der Association pour la Fondation Mémoire d’Auschwitz, wissenschaftlicher Leiter des Centre de Documentation Juive Contemporaine, Direktor der Zeitschrift Le Monde Juif und Präsident der historischen Kommission Mémorial du Martyr Juif Inconnu war er der einzige geladene französische Zeuge beim Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. Er wurde als Ritter der französischen Ehrenlegion (Chevalier de la Légion d’honneur) ausgezeichnet. Der Historiker argumentierte insbesondere auch gegen die Holocaustleugner, beispielsweise in: Les chambres à gaz ont existé. Des documents, des témoignages, des chiffres, Paris 1981 oder À propos du nombre de morts au camp d’Auschwitz, in: Le monde juif 46 (1990), S. 187–195.