Der Lischka Prozess
„Die Zeit mag viele Wunden heilen, jedoch zweifellos nicht alle.“
Überlebende der Shoah kämpfen auch noch Jahrzehnte nach dem nationalsozialistischen Völkermord für Gerechtigkeit, Solidarität und Anerkennung. Während das Verbrechen selbst immer weiter in die Vergangenheit rückt, wurde die Bewusstwerdung über das, was geschehen war, für die Überlebenden meist um so dringlicher. Häufig hatten sie selbst auch versucht, die erlebte Grausamkeit, Brutalität und Angst zu vergessen, da die Erinnerung viel zu sehr schmerzte. Doch es gab auch Menschen, die trotz ihrer traumatischen Erfahrungen den Mut fanden, ihre Stimmen gegen das erlittene Unrecht zu erheben. Der Widerstand, der auf den Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit ausgerichtet war, leistete häufig auch einen Beitrag zur individuellen Bewältigung des erlittenen Traumas. Dies zeigt die Geschichte von Léa Feldblum, einer jüdischen Erzieherin, die ihr Leben für die ihr anvertrauten 44 jüdischen Waisenkinder riskierte.
Léa Feldblum wurde am 13. Juli 1918 in Warschau in einer jüdischen Familie geboren. 1929 zog sie mit ihrer Familie nach Antwerpen und musste von dort 1940, nach der Besetzung Belgiens durch die deutsche Wehrmacht, fliehen. In Frankreich arbeitete sie in unterschiedlichen pädagogischen Einrichtungen und schließlich – unter dem nicht jüdisch klingenden Decknamen Marie-Louise Decoste – als Lehrerin und Betreuerin im Kinderheim Maison d’Izieu bei Lyon. Hierhin hatten jüdische Eltern ihre Kinder vor der Internierung oder Deportation durch die Nationalsozialisten in Obhut gegeben.
Doch am 6. April 1944 änderte sich die Situation für die 44 Waisenkinder im Maison d’Izieu für immer. Im Auftrag von Gestapo-Chef Klaus Barbie wurde eine Razzia durchgeführt, bei der die Kinder zusammen mit ihren Betreuer*innen, darunter auch Léa Feldblum, ins Sammellager Drancy verschleppt und anschließend ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden. Obwohl Léa Feldblum gefälschte Papiere besaß, mit denen sie sich der Deportation nach Auschwitz hätte entziehen können, entschied sie sich in Drancy, ihre wahre Identität aufzudecken und die Kinder im Deportationszug zu begleiten. Nach der Ankunft auf der „Rampe“ in Auschwitz-Birkenau wurde Léa Feldblum von den Kindern getrennt und zur Zwangsarbeit verplichtet. Sie muste erleben, wie die 44 Kinder und die sechs weiteren Betreuer*innen, die ebenfalls deportiert worden waren, in die Gaskammern abgeführt und dort ermordet wurden. Léa Feldblum blieb als einzige Überlebende der Deportation aus Izieu zurück.
Nach der Befreiung von Auschwitz gelang sie auf verschlungenen Wegen über Odessa zurück nach Montpellier und reiste von Südfrankreich schließlich an Bord der „Exodus“ ins damals noch palästinensische Mandatsgebiet, das spätere Israel, wo sie ihr restliches Leben verbrachte. Die Kinder, die sie so sehr geliebt hatte, konnte sie nie vergessen. In ihren Erinnerungen schrieb sie: „Niemals können die ängstlichen Gesichter der unschuldigen Kinder – die das Land, in dem sie so viel Spaß hatten – aus dem Herzen einer Frau gelöscht werden“.
Vor dem Hintergrund der in der Shoah erlebten Gewalttaten sagte Léa Feldblum 1987 gegen den verantwortlichen NS-Verbrecher Klaus Barbie vor dem Gericht in Lyon aus. Sie schilderte ihre schrecklichen Erlebnisse und fokussierte dabei hauptsächlich auf die Kinder, die sie bis zum Ende begleitet hat. Sie betonte: „Es ist meine Pflicht, im Namen meiner 44 Kinder, die in Auschwitz ermordet wurden, gegen Klaus Barbie auszusagen, denn sie erscheinen jede Nacht vor meinen Augen… Seit 43 Jahren trage ich Izieu in meinem Herzen“. Zwei Jahre nach dem Prozess starb sie in Tel Aviv.
Die Entscheidung von Léa Feldblum, mit den Kindern in den Deportationszug zu steigen, ist als ein Akt großen Mitgefühls und tiefer Verbundenheit zu werten. Die emotionale Hingabe, das Gefühl, die Kinder in ihrer Not nicht alleine lassen zu können, brachte Léa Feldblum dazu, ihr eigenes Leben zu riskieren. Später motivierte es sie dazu, sich aktiv gegen die Gräueltaten der Nazis zu erheben und für Gerechtigkeit einzutreten. Sich aktiv mit den ehemaligen Tätern zu konfrontieren und gegen Barbie vor Gericht auszusagen, setzte Mut und Stärke voraus und auch die Souveränität, sich mit der traumatischen Vergangenheit zu konfrontieren.
Verfasst von Alina Bäcker/Anne Klein
Literatur:
https://taz.de/Die-zufaellig-Ueberlebenden-von-Izieu/!1865540
https://www.nytimes.com/1987/08/30/magazine/film-bearing-witness.html