Der Lischka Prozess

 

Thomas Harlan: Die Suche nach der Wahrheit über Ausschwitz

Martin Rapp

„Gegen den amerikanischen Faschismus in Vietnam oder für die Rechte der Palästinenser zu demonstrieren war einfacher, als sich mit den eigenen Vätern auseinanderzusetzen“, sagte Beate Klarsfeld 1987 im Rückblick auf die 68er-Revolte in der Bundesrepublik. Es sei leichter gewesen, die Väter zu verachten, als ihnen Rechenschaft und Sühne abzuverlangen. Beate Klarsfeld, die im November 1968 dem Kanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, eine schallende Ohrfeige verpasst hatte, wusste, wovon sie sprach. Wie viele ihrer Altersgenossen war sie tief empört über die Verstrickung der bundesdeutschen Eliten in die NS-Verbrechen. Wer es wissen wollte, stieß in der Bonner Republik damals praktisch überall auf personelle Kontinuitäten. Die Auseinandersetzung der 68er-Generation mit der unbewältigten Nazi-Vergangenheit sei der entscheidende Katalysator für die Revolte gewesen, meint der Historiker Norbert Frei. So kursierten bereits seit Ende der fünfziger Jahre an Universitäten Dokumentationen über die Nazivergangenheit von Professoren. Doch wer kritische Fragen stellte, galt schnell als Nestbeschmutzer oder als „fünfte Kolonne“ Ostberlins. Tatsächlich befeuerte die DDR-Regierung die Kritik an den politischen Verhältnissen im Westen, als sie in dem im Juli 1965 veröffentlichten Braunbuch die Nazikarrieren zahlreicher einflussreicher Bundesbürger belegte. Das Buch des Staatsrats der DDR las sich als Who is Who des NS-Regimes. Doch obwohl das Thema auf reges Interesse im Westen stieß, wurde die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen nicht beherrschend für die Neue Linke.

Vielmehr standen die familiären Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse um Fragen von Schuld und persönlicher Verantwortung für Vernichtungskrieg und Holocaust zumeist am Anfang einer allgemeinen Politisierung. Beate Klarsfelds Ohrfeige markierte in gewissem Sinne bereits den Endpunkt der moralischen Empörung über die Nazivergangenheit in Westdeutschland, so stellte Norbert Frei später fest. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des mörderischen US-Krieges in Vietnam beschäftigten sich die studentischen Aktivistinnen und Aktivisten mehr und mehr mit der Systemfrage und dem antiimperialistischen Befreiungskampf – anders als das Ehepaar Klarsfeld. Serge und Beate Klarsfeld wandten sich nach eigenen Angaben bereits 1968 enttäuscht von der außerparlamentarischen Opposition ab. Dennoch konnten sie sich bei ihrer Jagd auf Nazi-Mörder in den folgenden Jahren auf ein Netzwerk von APO-Aktivistinnen und -Aktivisten stützen. So berichtete Beate Klarsfeld im April 1971 in einer Extraausgabe der Zeitschrift Konkret unter der Überschrift „Noch 312 Nazis entführen!“ exklusiv über die versuchte Entführung von Kurt Lischka in Köln. Die in Hamburg seit 1958 erscheinende Zeitschrift berichtete immer wieder über vergessene NS-Verbrechen. In dieser Extraausgabe erschien auch eine Stellungnahme von Simon Wiesenthal, der die Aktionsform der Klarsfelds missbilligte.

Die Bundesrepublik sei nicht mit einem südamerikanischen Staat gleichzusetzen, so argumentierte er, denn „hier können diese Dinge auf gesetzlichem Wege durchgesetzt werden“. Und er fuhr fort: „Aber verstehen kann ich die jungen Leute, wenn ihnen der Geduldsfaden reißt.“ Anfang der 1970er-Jahre spürten die Klarsfelds den „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, in Bolivien auf. 1972 versuchten die Deutsche Monika Ertl und der Franzose Régis Debray, die damals mit der bolivianischen Guerillabewegung Ejército de Liberación Nacional (ELN) zusammenarbeiteten, ihn zu entführen. Der Plan, den NS-Kriegsverbrecher über Chile nach Frankreich zu bringen, um ihn dort vor Gericht zu stellen, scheiterte jedoch. Auch Serge Klarsfeld wurde verhaftet. Monika Ertl, die bereits 1970 untergetaucht war, wurde im Mai 1973 von bolivianischen Sicherheitskräften erschossen. An der Fahndung nach der Deutschen soll auch Klaus Barbie, der mit dem bolivianischen Geheimdienst zusammenarbeitete, beteiligt gewesen sein. Ertl wurde von der Polizei unter anderem wegen der Erschießung des bolivianischen Konsuls Quintanilla im April 1971 in Hamburg gesucht. Der Konsul galt als einer der Mörder Che Guevaras. Die Pistole, mit der der Diplomat in der Hansestadt hingerichtet wurde, war auf den Namen des italienischen Verlegers und Aktivisten der italienischen Organisation Lotta Continua, Giangiacomo Feltrinelli, registriert.

Als einige Zeit nach dem Attentat ein weiterer bolivianischer Diplomat am Pont Mirabeau in Paris erschossen wurde, wiesen die Spuren wieder auf den Verleger und einen deutschen Genossen bei Lotta Continua, der nach dem Anschlag festgenommen wurde. Sein Name war Thomas Harlan. Er war der Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan und hatte bereits 1959 mit einem Aufruf zur Strafverfolgung von NS-Tätern, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war, für Schlagzeilen gesorgt. Ein Jahr später stellte Thomas Harlan bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Strafanzeige gegen 93 Personen wegen deren Beteiligung an NS-Verbrechen in Frankreich. Der Filmemacher hatte mehrere Jahre in polnischen Archiven nach Dokumenten geforscht, um den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen und die Täter vor Gericht zu bringen.

Thomas Harlan: Ein Leben im Kampf gegen das Vergessen

Thomas Harlan wurde 1945 sechzehn Jahre alt. Bereits 1947 begann er sein Studium an der Universität Tübingen. Während seiner Zeit dort traf er Michel Tournier, der später ein bedeutender französischer Schriftsteller wurde. Über Tournier lernte Harlan in Paris weitere Vordenker der 68er-Bewegung kennen, darunter den Philosophen Gilles Deleuze. Die französische Studentenbewegung war durch die Résistance, nachfolgende antikoloniale Kämpfe und eine radikale Arbeiterbewegung geprägt und kritisch gegenüber autoritären Traditionen eingestellt – anders als die deutsche Studentenbewegung.

Zu diesem Zeitpunkt musste Harlan mit Entsetzen beobachten, wie sein Vater Veit Harlan, der im März 1947 in Hamburg wegen „Beihilfe zur Verfolgung“ vor Gericht stand, jegliche Schuld leugnete und dafür von seinen zahlreichen Anhängern frenetisch gefeiert wurde. Veit Harlan, der Regisseur des antisemitischen Propagandafilms „Jud Süß“, wurde nach einer Anzeige der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) angeklagt, jedoch in zweiter Instanz freigesprochen. Diese Ereignisse führten dazu, dass Thomas Harlan mit seinem Vater brach.

Thomas Harlan wurde in Paris bei Michel Tournier zum Kommunisten, jedoch ohne Parteimitglied zu werden. 1953 nahm er an einer militanten Demonstration vor der US-Botschaft in Paris teil, um gegen die Hinrichtung von Julius und Ethel Rosenberg zu protestieren, die Opfer der antikommunistischen Verfolgung in der McCarthy-Ära waren. Im selben Jahr reiste Harlan mit Klaus Kinski nach Israel und besuchte den Kibbuz Lochamei HaGetaot, wo er Yitzak Cukiermann traf, einen Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstands. Inspiriert von der Geschichte des jüdischen Widerstands schrieb Harlan zwei Theaterstücke: „Bluma“ und „Ich selbst und kein Engel“.

1958 inszenierte Harlan „Ich selbst und kein Engel“ in Berlin, beteiligte jedoch seinen Vater an der Inszenierung, was er später als schweren Fehler betrachtete. 1959 kam es nach einer Aufführung des Stücks zum Skandal: Alte und neue Nazis attackierten das Stück in der Berliner Kongresshalle mit Stinkbomben, nachdem Harlan dazu aufgerufen hatte, die Kriegsverbrecher Franz Alfred Six und Heinz Jost vor Gericht zu stellen. Beide SS-Führear waren beim Nürnberger Einsatzgruppenprozess verurteilt, aber frühzeitig freigelassen worden.

Harlan fühlte sich bedroht und ging nach Polen, um Beweismaterial gegen Six und Jost zu suchen. In polnischen Archiven entdeckte er zahlreiche Dokumente über Nazi-Verbrechen. Seine Recherchen veröffentlichte er im deutschen Programm des polnischen Rundfunks, was ihm eine Strafanzeige wegen Landesverrats einbrachte. Harlan fand heraus, dass viele ehemalige NS-Verbrecher wieder in hohen Positionen in der Bundesrepublik tätig waren, und arbeitete an einem Buchprojekt mit dem Titel „Das Vierte Reich“.

Seine Recherchen führten zu Prozessen, wie dem gegen Mitglieder des Sonderkommandos Chełmno, und er unterstützte die Arbeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, die NS-Verbrechen untersuchte. 1962 geriet Harlan in Polen in Ungnade, als er herausfand, dass der polnische Innenminister Mieczysław Moczar während des Krieges mit der Gestapo zusammengearbeitet hatte. Dies führte zu seiner Ausweisung aus Polen.

Zurück in der Schweiz gab Harlan die Arbeit an seinem Buch auf, nachdem er erfahren hatte, dass der Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, Erwin Schüle, selbst an NS-Verbrechen beteiligt gewesen war. Enttäuscht von der politischen Lage und den Verjährungsdebatten in Deutschland wandte sich Harlan dem bewaffneten Kampf zu, um gegen die „Renazifizierung“ der Bundesrepublik zu kämpfen.

Seine Recherchen und das gesammelte Wissen über die NS-Zeit machten Thomas Harlan zu einer zentralen Figur im Kampf gegen das Vergessen der Verbrechen des Nationalsozialismus. Seine persönlichen und politischen Erfahrungen prägten sein Leben und seinen unermüdlichen Einsatz für die Aufarbeitung der Vergangenheit.