Der Lischka Prozess
Die Strafprozesse zu Verbrechen des Nationalsozialismus werden allgemein als NS-Prozesse bezeichnet. Im Fachdiskurs ist die Kurzform NSG-Verfahren üblich; im Alltagsdiskurs wird häufig der „Kriegsverbrecherprozesse“ genutzt. Völkerrechter wie Gerad Hankel und Gerhard Stuby sprechen auch von „Strafgerichten gegen Menschheitsverbrechen“.[1]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder auch „gegen die Menschheit“ („crimes against humanity“) wurden erstmals völkervertraglich festgelegt im Londoner Statut von 1945[2] und diente als Grundlage für die sogenannten Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes. Handelte es sich in Nürnberg noch um einen internationalen Militärgerichtshof, so besteht seit dem 1. Juli 2002 der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag als ständige Institution zur Verfolgung dieser Verbrechen. Am 9. Dezember 1948 beschloss zudem die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Resolution 260 A (III) die sogenannte Genozidkonvention[3], die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Das Genozidverbot ist heute eine zwingende Regel des Völkerrechts (ius cogens).[4]
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Genozid“ und „Holocaust“ (Shoah) werden häufig als Synonyme verwendet. Bei den ersten beiden Begriffen handelt es sich jedoch um Rechtsbegriffe, die zugleich wissenschaftliche Kategorien sind. In der Geschichtswissenschaft werden die Begriffe „Holocaust“ und „Shoah“ für den von Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg verübten Völkermord an den Jüdinnen und Juden verwendet.
„Denn wie eine Gesellschaft nach einem Systemwechsel auf juristischer Ebene mit den Gewaltakten des Vorgängerstaates umgeht, ist ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung einer Demokratie, die vorgibt, sich an den Prinzipien der Menschenrechte – und damit der Gerechtigkeit – zu orientieren.[5] In den NS-Prozessen wurde die Bewältigung der Vergangenheit von einem politischen zu einem juristischen Problem; die Rechtsprechung fand statt in einem Spagat zwischen formalen Verfahrensregeln, Rechtsgrundlagen und möglicherweise vorhandenen Gerechtigkeitsvorstellungen. (…)
Aus mindestens drei Gründen gab es in der Bundesrepublik nach Ende des Zweiten Weltkriegs ganz grundlegende Probleme mit dem Rechtsverständnis. Erstens hatte das NS-Regime das herkömmliche Verständnis von Recht und Gesetz völlig auf den Kopf gestellt. Auf der normativen Ebene – beispielsweise mit der antijüdischen Gesetzgebung – war das
„gesetzliche Unrecht“[6] institutionalisiert worden. Parallel dazu hatte sich durch die Praxis des Terrors eine völlige Entkoppelung von Macht und Recht durchgesetzt.[7] Als mit Beginn des Krieges der Massenmord zur staatlichen Politik erhoben wurde, war auf die Legitimierung staatlichen Handelns durch Gesetze vollends verzichtet worden.[8]“
Zweitens waren trotz des politischen Neubeginns 1945 und mit Gründung der Bundesrepublik 1949 die Kontinuitätslinien nicht zu übersehen. Am 11. Mai 1951 wurde im Bundesgesetzblatt das Ausführungsgesetz zu Art. 133 GG veröffentlicht, das für ehemalige Beamte die Möglichkeit vorsah, wieder in den Staatsdienst zurückzukehren.[9] Gleichzeitig wurden viele der bereits verurteilten NS-Täter amnestiert und aus der Haft entlassen.[10](…)
Drittens hatte der Gesetzgeber der Justiz kein strafrechtliches Instrumentarium an die Hand gegeben, um adäquat auf einen staatlich organisierten Massenmord zu reagieren. Unter Bezugnahme auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus hatte man am Individualstrafrecht festgehalten, obwohl die Rechtsprechung des Nürnberger Militärgerichtshofs deutlich gemacht hatte, dass viele Täter nicht als Einzeltäter, sondern als Mitglieder „kriminell“ oder „verbrecherisch“ deklarierter Organisationen wie der SS oder dem SD an den Verbrechen mitgewirkt hatten.“
Zudem wurde der in den Nürnberger Prinzipien festgelegte und zunächst unter alliierter Besatzung im Kontrollratsgesetz Nr. 10 etablierte Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht in das bundesdeutsche Strafgesetzbuch übernommen.[11] Als Begründung wurde das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege) angeführt, auch wenn – trotz grundsätzlich berechtigter Überlegungen – klar gewesen sein dürfte, dass ein Staat niemals seine eigenen Vergehen präventiv unter Strafe stellt. Der nationalsozialistische Völkermord wurde dadurch zu einem nicht-zu-ahndenden Verbrechen.[12]
Von der Justiz selbst ging diesbezüglich ebenfalls keine Initiative aus. Wie andere Berufsstände zeigten auch die Juristen, unter anderem sicher auf Grund der eigenen Verstrickungen in die nationalsozialistische Herrschaft, nach dem Krieg wenig Interesse an einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Rechtspragmatische bzw. anwendungsbezogene Überlegungen, die die zuständigen Juristen über die Möglichkeiten der Ahndung des Völkermords selbst hätten anstellen müssen, blieben aus. Die Herausforderung, die eine Auseinandersetzung mit dem im internationalen Recht definierten Straftatbestand des Völkermords bedeutet hätte, blieben aus.[13]
Die juristische Seite des Demokratisierungsprozesses fußte also auf einer Grundlage, die aus heutiger Perspektive höchst fragwürdig erscheinen muss. Vieles spricht für die These Daniel Bloxhams, dass auf Grund der Rolle, die für die Bundesrepublik im Kalten Krieg vorgesehen war – ein Angebot, das die Westdeutschen gerne annahmen – , jeglicher Gedanke an Schuld vermieden werden sollte.[14]
Zu bedenken ist, dass die politische Kultur der Bundesrepublik sich keineswegs geradlinig entwickelte in Richtung zu „Mehr Demokratie“. Vielmehr handelte es sich um einen von Paradoxien, Verweigerungen, Kämpfen, Krisen und Widersprüchen gekennzeichneten „deutschen Lernprozess“.[15]“
Karl Jaspers, der sich direkt nach Kriegsende auf philosophischer Ebene zu der „Schuldfrage“ geäußert hatte, unterscheidet in seinem Buch vier Schuldbegriffe so wie die Instanzen, die zu klären vermögen, welche Schuld jeder Einzelne auf sich geladen hat. Bei der kriminellen Schuld handelt es sich um Verbrechen, die objektiv nachweisbar sind und „gegen eindeutige Gesetze verstossen.“ Die Instanz, die für diese Art von Schuld für die Aburteilung zuständig ist, ist ein Gericht. Die politische Schuld definiert Jaspers als Schuld, die die vor allem die Staatsmänner einer Nation zu tragen haben, aber auch alle Menschen, die diesem Staat angehören. Hier ist der Nachfolgestaat zuständig. Drittens gibt es eine moralische Schuld, d.h. eine Verantwortung, die jeder allein für seine „Handlungen, auch für politische und militärische“ zu tragen hat. Die Instanz, die über eine solche Schuld entscheidet ist das eigene Gewissen, sowie Personen, die „an meiner Seele interessiert“ sind. Viertens macht sich der Mensch im
Sinne der „metaphysischen Schuld“ schuldig, indem er nicht alles in der eigenen Macht stehende dafür tut, um „alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen“ zu verhindern. Diese Form der Schuld lässt sich mit menschlichen Möglichkeiten nicht hinreichend erfassen. Die Instanz ist in diesem Fall „Gott allein.“[16]
In der Zuständigkeit einer Gesellschaft liegt also die Bearbeitung der drei zuerst genannten Formen der Schuld, nämlich auf der juristischen, politischen und moralischen Ebene. Jaspers durchaus hilfreiche Überlegungen wurden jedoch über den eigenen Freundeskreis hinaus kaum diskutierte; und dabei handelte es sich um Personen wie beispielsweise Hannah Arendt, die sich allein schon qua Herkunft mit den Möglichkeiten der Aufarbeitung der Verbrechen beschäftigte. In einem Brief an den Philosophen hatte sie ihre Haltung zur strafrechtlichen Ahndung folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Diese Verbrechen, scheint mir, lassen sich juristisch nicht mehr fassen, und das gerade macht ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr: Göring zu hängen ist notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen
Dieses von Hannah Arendt für die juristische Ebene konstatierte Dilemma traf tatsächlich den Kern eines real vorhandenen Problems. Allerdings sagt es nichts darüber aus, welcher Stellenwert der politischen und moralischen Seite der Schuldbearbeitung zukommen sollte. Die Probleme, die es auf der juristischen Ebene damit, NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, konnten keine Legitimation für die gesamtgesellschaftliche Nicht-Bearbeitung der Täterschaft bieten. Die in der Entscheidung zur politischen und moralischen Verdrängung der Verbrechensbearbeitung liegenden Fallstricke liegen auf der Hand. Die Schuldfrage wurde zu einem tabuisierten, latent jedoch ungeheuer wirkungsmächtigen Phänomen deutscher „Vergangenheitsbewältigung“. 50
(…)
Damit ist eine Problemlage angezeigt, die weit über die juristische Ebene auf sozialpsychologische Dimensionen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hinweist.
Mehrheitlich betrachtet gab es kein Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen. Die Deutschen sahen sich selber als Opfer der NS-Herrschaft und fühlten sich gleichzeitig in einem undurchsichtigen Nebel der „Kollektivschuld“ gefangen. Diese scheinbare Paradoxie konnte problemlos in die Moral christlich-abendländischer Welterklärung eingebaut werden. Für eine wie auch immer geartete Einsicht in die eigene Täterrolle und – damit zusammenhängend – die Bereitschaft zur Übernahme von historischer Verantwortung, bot dies keine ausreichende Grundlage.
[1] G. Hankel, G. Stuby (Hrsg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Hamburg 1995.
[2] Zuvor waren nur „Kriegsverbrechen“ kodifiziert, als Verbrechen innerhalb von Kriegen gegen Kombattanten. Neu hinzu kamen nun „Verbrechen gegen den Frieden“. Darunter wurde Planung, Einleitung und Durchführung eines Angriffskriegs verstanden, sowie die Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung dazu. Als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden diejenigen Maßnahmen definiert, die sich abseits der Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung eines Landes richteten. Darunter fielen die Ermordung, Versklavung und Deportation von Zivilisten, Verfolgungen aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen.
[3] Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes; offiziell Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, CPPCG)
[4] Die Bundesrepublik Deutschland erklärte ihren Beitritt am 9. August 1954. Die Deutsche Demokratische Republik folgte am 27. März 1973.
*Auszüge aus Anne Klein, Mentalität – Massenmord – Moral. Rechts- und Geschichtsverständnis in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, in: Frank Neubacher, Anne Klein (Hg.), Vom Recht der Macht zur Macht des Rechts? Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft internationaler Strafgerichte, Berlin, 2006, S. 161-176
_______________________________________
[5] Brigitte Hamm, Die Achtung der Menschenrechte als Grundlage für politische Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert, in: Claus Leggewie, Richard Münch (Hg.), Politik im 21. Jahrhundert; Frankfurt a.M. 2001, S. 228-244; Mark Arenhövel, Demokratie und Erinnerung. Der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen, Frankfurt a.M./New York 2000.
[6] Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders., Der Mensch im Recht, Göttingen 1961, S. 105 ff.
[7] Vgl. die Analyse über die Trennung von „Normenstaat“ und „Maßnahmestaat“ in Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Europäische Verlagsanstalt 1974, erstmals veröffentlicht 1941 in den USA.
[8] Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (1942/44), herausgegeben von Gert Schäfer, Köln 1977. Nach dieser im amerikanischen Exil verfassten Studie hatte das Repressionsgefüge des NS-Staates ohnehin nie Recht, sondern lediglich juristische Instrumentarien und schrankenlose Ermächtigungen zur Manipulation der Massen durch Terror hervorgebracht. Vgl. Ebda., S. 530.
[9] Dies betraf schätzungsweise 220.000 bis 450.000 Personen. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 70 f. Dies betraf schätzungsweise 220.000 bis 450.000 Personen.
[10] Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1984
[11]Kontrollratsgesetz Nr. 10, https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0229_kri&l=de (Zugriff 10.10. 2024).
[12] Zum Problem der Straflosigkeit siehe den Artikel von Carolin Reese in diesem Band.
[13] Vgl. u.a. Raphael Gross, Der Führer als Betrüger. Moral und Antipositivismus in Deutschland 19345/56 am Beispiel Fritz von Hippels, in: Anne Klein/Jürgen Wilhelm (Hg.), NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945, Köln: Greven Verlag 2003; Marc von Miquel, Juristen: Richter in eigener Sache, in: Norbert Frei, Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a.M. 2001, S. 181-237.
[14] Daniel Bloxham, Genocide on Trial – war crimes trials and the formation of Holocaust history and memory, Oxford University Press 2001.
[15] Norbert Frei, Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20 Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck/Wien/München/Bozen 2003, S. 87-102.
*Auszüge aus Anne Klein, Mentalität – Massenmord – Moral. Rechts- und Geschichtsverständnis in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, in: Frank Neubacher, Anne Klein (Hg.), Vom Recht der Macht zur
Macht des Rechts? Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft internationaler Strafgerichte, Berlin, 2006, S. 161-176
________________________________________
[16] Siehe Karl Jaspers, Die Schuldfrage, München 1979 (3. Auflage), S. 21 f.
49 Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 17. August 1946.
50 Dan Diner, On Guilt Discourse and Other Narratives. Epistemological Observations regarding the Holocaust, in: History & Memory 9 /1997) 1/2, S. 301-320.
[17] Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 17. August 1946.