Der Lischka Prozess
Die Normalität des beklemmenden Nachkriegsschweigens geriet durch den 1964 in Frankfurt stattfindenden Prozess gegen 22 ehemalige Angehörige des Lagerpersonals in Auschwitz beträchtlich ins Wanken.[1] Für die Zeugen der Opferseite, meist aus Polen oder Israel angereiste jüdische Überlebende, bedeutete die Teilnahme an diesem Gerichtsverfahren die schmerzhafte Konfrontation mit einer unerträglichen Geschichte. Die meisten von ihnen besuchten zum ersten Mal nach Kriegsende wieder Deutschland. Zuvor hatten im Familien- und Freundeskreis heftige Debatten statt gefunden, ob es nicht zu gefährlich sei bzw. überhaupt Sinn machte, im Land der Täter Zeugnis über die Verbrechen abzulegen. Angekommen in Deutschland standen die Lagerüberlebenden vor Gericht ihren ehemaligen Peinigern von Angesicht zu Angesicht gegenüber und hörten deren hart klingende deutsche Sprache, die sie noch von den tödlichen Kommandos in den Lagern her kannten. Die meisten Überlebenden erzählten jetzt zum ersten Mal von ihren Erfahrungen, doch für ihr persönliches Schicksal interessierte man sich kaum. Vor Gericht waren sie allenfalls als Zeugen für die Beweisführung von Interesse; im Rahmen des Prozesses wurde ihren Berichten kein eigener Wert beigemessen. Die strenge Verfahrensrationalität drängte die Leiden der Opfer völlig in den Hintergrund und reaktivierte sogar in einige Fällen die mit den Gewalterfahrungen verbundenen Traumatisierungen.[2]
Für die jüdischen Überlebenden war die Gewalt, die sie in den Lagern erlebt hatten, unbegreiflich; das massenhafte Sterben von Angehörigen würde für sie und ihre Kinder rational niemals zu verstehen sein. Die grundlegenden sozialen und familiären Bande waren zerrissen; ihr Vertrauen in eine wie auch immer stabile, von Sicherheit und Vertrauen geprägte Welt war zerstört. Der von der Gestapo gefolterte und nach Auschwitz deportierte Jean Améry beschreibt die Folgen der existenzbedrohenden Lagerhaft folgendermaßen: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.“[3] Wenn sich also diese in den gefühlten Erinnerungen abgespeicherten Extremerfahrungen nach Ende des Krieges mit einem „normalen“ Alltag verbinden sollten, offenbarten sich scheinbar „beschädigte Identitäten“: gebrochene Herkunftsgeschichten, virtuelle Geographien, displacement, hybrides Bewusstsein und ein übermächtiges Gedächtnis. Stumme Bilder von Auflehnung und Wut vermischten sich mit der Angst vor Vernichtung; Schuld- und Schamgefühle, Isolation und Verletzung verbanden sich mit der unstillbaren Sehnsucht nach Respekt und Dazugehörigkeit.[4] Die Überlebenden waren aus den NS-Verbrechen aber nicht nur als Opfer, sondern vor allem als Menschen hervorgegangen, die, was die Formen totaler Macht betraf, um mindestens zwei Erfahrungen reicher waren: Zum einen hatten sie die „Normalität“ eines Systems kennen gelernt, das in der Lage war, Massenmörder hervorzubringen. Zum anderen hatten sie die Behandlung der systemtreuen Folterer am eigenen Leibe erfahren und damit einen nachhaltigen Eindruck von der Funktionsweise von „Täterseelen“ erhalten. Diese tiefgreifende Konfrontation mit den Abgründen menschlichen Handelns, das auch einige der eigenen Schicksalsgenossen eingebunden hatte, prägte das Leben der Überlebenden nach dem Völkermord und übertrug sich, in meist unbewusster Form, auch auf ihr Kinder.[5]
Den Zeugen der Opferseite und den Nebenklägern gegenüber auf der Anklagebank saßen im Auschwitz-Prozess die ehemaligen Täter. Ihre zentrale Strategie vor Gericht war das Schweigen. Nur, wenn sie nicht umhin kamen, antworteten sie auf die Fragen des Richters und der Staatsanwälte, meist trocken und ohne mit der Wimper zu zucken. Angeblich erinnerten sie sich an nichts. Regungslos stritten sie die Teilhabe an Mordaktionen ab. Sie empfanden keine Scham oder Reue, ohnehin zeigten sie kaum ein Gefühl. Sie strahlten eine scheinbar ungebrochene Selbstgewissheit aus und erniedrigten mit ihren kalten Blicken die jüdischen Überlebenden im Zeugenstand ein zweites Mal. Persönliche Erschütterung, geschweige denn Mitgefühl mit den Opfern, waren nicht zu spüren. Statt dessen empörten sie sich über die angeblich ungerechtfertigten Tatvorwürfe, denn schuldig waren ihrer Meinung nach nur die Hauptverantwortlichen des NS-Regimes, also Hitler, Himmler, Heydrich, Göring und Göbbels. Die beunruhigende Erkenntnis des Ulmer Einsatzgruppenprozesses von 1958, dass die Massenerschießungen von „gewöhnlichen Männern“[6] durchgeführt worden waren – ca. drei der sechs Millionen Menschen waren außerhalb von Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden – , hatte im gesellschaftlichen Bewusstsein keine sichtbaren Spuren hinterlassen.[7] Für die Zeugen der Opferseite war dies wie ein Spuk: Es gab Millionen von Ermordeten, aber niemand schien Täter gewesen zu sein. Folgendes Beispiel mag den grundsätzlichen Verstehenskonflikt zwischen der Welt der Opfer und der Welt der Täter vor Gericht verdeutlichen. Die jüdische Überlebende Lili Zelmanovic wurde von dem Vorsitzenden Richter im Auschwitz-Prozess, Hans Hofmeyer, gefragt, ob sie so liebenswürdig sei, dem Gericht die Originalfotografien von der Rampe des Vernichtungslagers zu überreichen, um mögliche Täter zu identifizieren. Da auf den Fotografien auch die Zeugin selbst und ihre Eltern zu erkennen waren, antwortete sie voller Misstrauen: „Ich werde sie Ihnen übergeben, jedoch nur während ich hier bin. Ich möchte sie nicht zurücklassen. Sie sind der einzige Besitz, den ich habe.“[8]
Die jedem NS-Prozess implizit zu Grunde liegende Frage, ob die Geschichte der Opfer überhaupt angemessen gewürdigt werden kann, wenn der Blick vorrangig auf die Täter und deren Verbrechen gerichtet ist, blieb auch im Auschwitz-Prozess unbeantwortet. Wie aber verhielten sich die Zuschauer in diesem Konflikt? Neben den Opfern bzw. Überlebenden und den Tätern stellten sie – soziologisch betrachtet – eine dritte Gruppe von Beteiligten dar, denen bei der justiziellen Bearbeitung der NS-Verbrechen eine zentrale Rolle zukam. Exemplarisch soll diese Position am Beispiel des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer dargestellt werden, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Obwohl für ihn persönlich das Schicksal der ermordeten Juden „der eigentliche Verhandlungsgrund“ im Auschwitz-Prozess war, schätzte er die Grenzen des Prozesses realistisch ein. Gegenüber der Öffentlichkeit verfolgte er ein pädagogisches Ziel, ausgerichtet auf die „Selbstaufklärung“ der Tätergesellschaft. Bauer wollte über den Umweg des Gerichtssaals ein Grundwissen über die NS-Massenmorde vermitteln. Ihm schwebte beispielsweise vor, Dokumente auf großen Leinwänden im Gerichtssaal zu zeigen, damit sie von allen Anwesenden gesehen und gelesen werden konnten. Es war vor allem sein Verdienst, dass das Prozessgeschehen von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde. Bauer hatte sich für eine intensive Pressearbeit und die Teilnahme von Schulklassen an den Gerichtsverhandlungen eingesetzt. Zudem stellte er sich auf Podiumsdiskussionen und bei Vorträgen den Fragen von Interessierten und, was von besonderer Bedeutung war: er unterstützte die Aufführung des Dokumentarstücks „Die Ermittlung“ von Peter Weiss auf zahlreichen Theaterbühnen in Ost und West. Der Auschwitz-Prozess wurde also in der Öffentlichkeit nicht nur als eine rein strafrechtliche Angelegenheit wahrgenommen, bei der es um die Ermittlung individueller Schuld ging, sondern als Teil eines historischen Aufklärungsprojektes. [9]
Martin Walser drückte aus, was viele Intellektuelle zu dieser Zeit dachten und positiv befürworteten: „Der Prozess gegen die Chargen von Auschwitz hat eine Bedeutung erhalten, die mit dem Rechtsgeschäft nichts mehr zu tun hat. Geschichtsforschung läuft mit, Enthüllung, moralische und politische Aufklärung einer Bevölkerung, die offenbar auf keinem anderen Weg zur Erinnerung des Geschehens zu bringen war.“[10] Während die intellektuelle Debatte ein beachtenswertes Niveau erreichte, blieb, wie Bevölkerungsumfragen zeigten, die Mehrheit der Deutschen jedoch stur und unnachgiebig in Fragen historischer Gerechtigkeit. Während im Sommer 1964 39% der Befragten der Meinung waren, es wäre besser, auf solche Prozesse zu verzichten, stieg ihre Zahl im Laufe des Auschwitzprozesses, gerahmt von der beginnenden Verjährungsdebatte, Anfang 1965 sogar auf 57% an.[11]
[1]Auszug aus Anne Klein, Mentalität – Massenmord – Moral. Rechts- und Geschichtsverständnis in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, in: Frank Neubacher, Anne Klein (Hg.), Vom Recht der Macht zur Macht des Rechts? Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft internationaler Strafgerichte, Berlin, 2006, S. 161-176
Die Tonbandmitschnitte der 183 Hauptverhandlungstage, die ursprünglich dem Gericht bei der Urteilsfindung behilflich sein sollten, sind erhalten geblieben. In elf Sprachen werden die Stimmen von 300 Zeugen transportiert. Vgl. Fritz Bauer Institut/Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.), Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte/Protokolle/Dokumente, DVD-Rom, Digitale Bibliothek, Berlin 2004, Irmtrud Wojak (Hrsg.), Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, herausgegeben im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts, Frankfurt a.M. 2004. vgl. auch die Tonbandmitschnitte des Bialystok-Prozesses, dokumentiert in: Freia Anders/Hauke-Hendrik Kutscher/Katrin Stoll (Hrsg.), Bialystok in Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967, Bielefeld 2003.
[2]William G. Niederland, Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt a.M. 1980.
[3]Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966, S. 70. Der österreichische Philosoph beging 1978 in Salzburg Selbstmord.
[4]Eine poetische, den persönlichen Dimensionen der Erinnerung angemessene Sprache findet Victor Jeleniewski Seidler, Shadows of the Shoah. Jewish Identity and Belonging, New York: Oxford 2000.
[5]Vgl. zur Auseinandersetzung mit den Täteranteilen bei den Opfern: Ka-Tzetnik 135633, Ich bin der SS-Mann. Eine Vision, München/Zürich 1994; Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah, Giessen 2001.
[6]Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek b. Hamburg 21999.
[7]Mit der Einrichtung der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, wenig später auch in Dortmund und Köln, versuchte man, diesem „Massenphänomen“ Rechnung zu tragen, indem man die Ermittlungen koordinierte und dadurch Spezialwissen zu den einzelnen Verbrechenskontexten ansammelte. Nur die Dortmunder und die Kölner Zentrale Stelle waren auch zur Anklageerhebung berechtigt. Vgl. Andreas Disselnkötter, „Jetzt ist es aber genug!“ Die Aufarbeitung der NS-Prozesse in Nordrhein-Westfalen, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 41 (2001), S. 174-181.
[8]Die fotografierte Selektion. Dokumentation der Aussage der Zeugin Lili Zelmanovic, 30. November und 3. Dezember 1964, in: Irmtrud Wojak (Hrsg.), Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, herausgegeben im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts, Frankfurt a.M. 2004, S. 160-163, hier S. 160.
[9] Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen, Frankfurt a. M. 1991; vgl. auch Brian Barton, Das Dokumentartheater, Stuttgart 1987, S. 109 ff.
[10]Martin Walser, Unser Auschwitz, in: Kursbuch 1 (1965), S. 189-200, hier S. 189.
[11]Vgl. die Ergebnisse einer Allensbacher Erhebung, wiedergegeben bei Werner Bergmann/Rainer Erb (Hrsg.) Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 291.