Der Lischka Prozess

 

Interview mit Prof. Dr. Ahlrich Meyer

„Legende von der korrekten Haltung der deutschen Besatzer in Frankreich“

Interview von politik-buch.de mit Prof. Dr. Ahlrich Meyer zu seinem Buch „Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung“

Hat die Judenverfolgung in Frankreich ein Spezifikum aufzuweisen, das sie in anderen westeuropäischen Ländern nicht hatte?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich sind etwa 80.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer gefallen, die zumeist in Auschwitz ermordet wurden. Dies war eine Viertel der jüdischen Gesamtbevölkerung, während in den meisten europäischen Ländern die Zahl der Opfer weitaus höher lag. Dreiviertel der Juden in Frankreich konnten mit Hilfe der Franzosen gerettet werden, die den Verfolgten Unterstützung gewährten, ihnen falsche Papiere beschafften und zur Flucht verhalfen oder die jüdische Kinder versteckten. Andererseits zeichnete sich die damals in Frankreich amtierende Vichy-Regierung dadurch negativ aus, dass sie den Deutschen die französische Polizei für Judenrazzien zur Verfügung stellte und besonders bereitwillig die jüdischen Immigranten und Flüchtlinge nicht-französischer Staatsangehörigkeit zur Deportation auslieferte.

Sie räumen mit dem Vorurteil auf, dass sich die Wehrmacht in Frankreich „korrekt“ und „sauber“ verhalten hat. Worin liegen die wesentlichen Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Ich weiß nicht, ob man die deutsche Kriegführung und Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg an den Maßstäben der Haager Landkriegsordnung messen sollte, oder ob nicht vielmehr das in Nürnberg statuierte Völkerrecht, das „Verbrechen gegen die Menschheit“ verurteilte, zum Maßstab genommen werden muss. Jedenfalls war die deutsche Militärverwaltung in Frankreich – neben der SS – mitverantwortlich für die Verfolgung und Deportation der Juden. Auch die massenhafte Erschießung sogenannter „Geiseln“ als Antwort auf den zunehmenden französischen Widerstand und die in der Schlussphase der Besatzungszeit einsetzenden Repressalmaßnahmen der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung bewegten sich außerhalb aller kriegs- und völkerrechtlichen Normen.

In den vergangenen Jahren sind die Verbrechen der Wehrmacht in Osteuropa Thema zahlreicher Publikationen geworden und kontrovers diskutiert worden. Erwarten Sie eine ähnliche Diskussion, wenn die Ergebnisse Ihres Buches bekannt werden?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Die deutschen Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Frankreich lassen sich nicht nur quantitativ nicht mit den in Ost- und Südosteuropa verübten Verbrechen vergleichen. Dennoch bleibt es erstaunlich, wie wenig Raum sie in der historischen Erinnerung und öffentlichen Diskussion in Deutschland einnehmen – und dies, obwohl die deutsch-französische Verständigung zu den Konstanten der Nachkriegsentwicklung in Europa gehörte. Es wäre schon viel, wenn hierzulande zumindest die weitverbreitete Legende von der korrekten Haltung der deutschen Besatzer in Frankreich in Frage gestellt würde. Eine größere Debatte in der Öffentlichkeit ist aber meiner Ansicht nach nicht zu erwarten.

Das Militärische Forschungsamt spielt in der Untersuchung der Verbrechen der Wehrmacht eine merkwürdige Rolle. Erst auf massiven Druck hat das Amt 1999 einen Band „Die Wehrmacht, Mythos und Realität“ vorgelegt. Wie beurteilen Sie diesen Band und das Vorgehen des Forschungsamtes?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Der angesprochene Band des MGFA enthält durchaus einige interessante Neuansätze der Militärgeschichtsschreibung, die von einer jüngeren Generation von Historikerinnen ausgehen. Mir ist aber vor allem kritisch aufgefallen, dass sich der jahrzehntelange Mangel an Forschungsarbeiten zur deutschen Besatzung in Frankreich niederschlägt, wenn die Herausgeber des Bandes etwa davon sprechen, „dass sich, von einzelnen Ausschreitungen abgesehen, Kriegführung und Besatzung in den […] westeuropäischen Ländern im großen Ganzen im Rahmen der Haager Landkriegsordnung bewegten“. Dies scheint mir doch eine Verharmlosung der in Frankreich begangenen Verbrechen zu sein.

Im Mai 2000 hat der bayerische Europaminister Reinhold Bocklet als erster offizieller Vertreter Deutschlands einen Kranz in Oradour-sur-Glane niedergelegt. Ist diese Kranzniederlegung auf die Forderungen in Ihrem Buch zurückzuführen?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Nein, ganz sicher nicht, ich habe auch keine „Forderungen“ gestellt. Ich höre jetzt zum ersten Mal von dieser Geste, die längst überfällig war. Es wäre interessant zu wissen, wie die Kranzniederlegung von den Menschen in Oradour aufgenommen worden ist.

Sie plädieren ebenfalls dafür, dass Simone Schloss, die am 2. Juli 1942 als Mitglied der französischen Widerstandsbewegung in Köln enthauptet wurde, eine Gedenktafel erhält. Hatten Ihre Bemühungen inzwischen Erfolg?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Die 21jährige Simone Schloss, Tochter jüdischer Immigranten aus Polen, wurde zusammen mit 26 anderen Widerstandskämpfern im April 1942 von einem deutschen Militärgericht in Paris wegen „Freischärlerei“ zum Tode verurteilt. Die Kriegsstrafverfahrensordnung der Wehrmacht sah vor, die Todesstrafe bei Frauen grundsätzlich durch Enthaupten zu vollziehen. Während die Männer auf einer Richtstätte bei Paris erschossen wurden, verbrachte man Simome Schloss nach Köln; dort verliert sich ihre Spur. Ich habe lediglich darauf aufmerksam machen wollen, dass es in Deutschland niemals eine Würdigung der hingerichteten, zumeist jugendlichen Angehörigen der französischen Widerstandsbewegung gegeben hat, obwohl es doch Menschen waren, die im Widerstand gegen die Nazi-Barbarei ihr Leben ließen. Wenn sich in Köln nun eine Initiative fände, die das Schicksal von Simone Schloss aufklären hilft und sich für eine öffentliche Form des Gedenkens einsetzt, dann hätte sie meine volle Unterstützung.

Die Täter haben in der Bundesrepublik selten eine angemessene Strafe erhalten oder sie wurden nicht an Frankreich ausgeliefert oder die Gerichtsverfahren in der Bundesrepublik wurden so lange verschleppt, bis die Täter gestorben oder nicht mehr verhandlungsfähig waren. Welche Gründe hatte die Bundesrepublik nach Ihrer Meinung für dieses Vorgehen?

Prof. Dr. Ahlrich Meyer: Läßt man das weitgehende Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz im Umgang mit den NS-Verbrechen sowie die zahlreichen Hindernisse juristischer Art einmal beiseite, die in der Bundesrepublik eine Aburteilung von strafrechtlich verantwortlichen ehemaligen Angehörigen des deutschen Militär- und Polizeiapparats in Frankreich nicht eben erleichtert haben (Stichwort: Überleitungsvertrag und deutsch-französisches Zusatzabkommen), so sehe ich zwei weitere Gründe. Erstens: Die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich brachte es mit sich, daß ein großer Teil der Terrormaßnahmen ausgelagert und nach dem Osten verlegt wurde – die Juden wurden deportiert, die Widerstandskämpfer im Rahmen von „Nacht-und Nebel“-Verfahren in Konzentrationslager verschleppt. So konnten sich die meisten Täter nach dem Krieg gegenüber der Justiz erfolgreich auf ihre angebliche Unkenntnis der mörderischen Konsequenzen ihres Handeln berufen; die meisten von ihnen gingen daher straffrei aus. Zweitens: Die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland hatte offenbar den Preis, dass über jene dunkle Periode der gemeinsamen Geschichte von 1939/40 bis 1944/45 jahrzehntelang danach kaum mehr geredet wurde. Die Einstellung der meisten Verfahren wegen Beteiligung an der Judenverfolgung oder an Geisel- und Partisanentötungen in Frankreich durch deutsche Staatsanwälte und Richter, die in der Bundesrepublik ohnehin niemanden aufgeregt hat, hat auch jenseits des Rheins nur vereinzelten Protest hervorgerufen.

politik-buch.de: Herr Professor Meyer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch mit Prof. Dr. Meyer führte Martina Hartleib