Der Lischka Prozess

 

Horst Matzerath: Nachwort

Die Geschichte des NS-Systems ist inzwischen weitgehend erforscht, wenngleich weiterhin immer neue Sachverhalte ans Licht kommen. Wie unsere Gesellschaft mit dieser historischen Last nach 1945 umgegangen ist, wird aber erst in den letzten Jahrzehnten stärker zum Thema politischer und gesellschaftlicher Diskussion. Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu. Die Auseinandersetzung mit der NS- Vergangenheit ist ein langer und schmerzhafter Prozess, inzwischen das Thema mehrerer Generationen. Ebenso alt ist in breiten Kreisen das Bedürfnis, die Diskussion über Verbrechen der NS-Zeit zu beenden und erlittenes Leiden gegeneinander aufzurechnen. Soweit man sich in den ersten Jahren nach 1945 dem Thema Nationalsozialismus stellte, war es in der Bundesrepublik zunächst die Gegenüberstellung von Demokratie und Totalitarismus, worunter dann neben dem Nationalsozialismus auch der Kommunismus gefasst wurde; im Osten Deutschlands entsprach dem die Gegenüberstellung von Faschismus und Sozialismus, wobei Nationalsozialismus und Bundesrepublik als Formen kapitalistischer Systeme zusammenrückten, bisweilen sogar gleichgesetzt wurden. Abgesehen von der Frontstellung gegen den Kommunismus besaß das Totalitarismuskonzept die Eigenschaft, Herrschaftsträger und Herrschaftstechniken in den Fokus zunehmen. In der Forschung wurden schrittweise die Bereiche thematisiert, die Herrschaftsstrukturen und Unterdrückungsapparate ins Blickfeldrückten: neben den Personen, die das System verkörperten, wie Hitler oder auch Himmler, Göring und Goebbels, Themen wie „Machtergreifung“, Gestapoterror und Konzentrationslager oder Propaganda. Zunehmend traten auch die Opfer des Systems in den Blick: politisch Verfolgte, Juden und mit deutlich geringerem Interesse Sinti und Roma, „Euthanasie“-Opfer, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und erst sehr spät die nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter. Als Nach- weis für die Existenz eines „besseren Deutschland“ gewann immer stärkeres Inter- esse der Widerstand, zunächst der bürgerliche und militärische des 20. Juli und der „Weißen Rose“, dann der der Parteien und Gewerkschaften und schließlich eher widerwillig – der der Kommunisten, die den aktivsten Widerstand geleistet und die höchsten Opfer zu verzeichnet hatten. Das diesem Ansatz zugrunde liegende Konzept von „Widerstand und Verfolgung“ ließ nur Raum für äter und Opfer bzw. Widerständler. Die Masse der Bevölkerung bestand danach nur aus „Mitläufern“ oder „Verführten“. Sie galt es in die noch junge demokratische Republik zu integrieren. Seit etwa den 1970er-Jahren hat ein Prozess eingesetzt, auch nach der Verantwortung von Institutionen, Firmen und Einzelpersonen zu fragen. Schrittweise ist die Rolle von Universitäten und Professoren, von Gesundheitsbehörden und Ärzten, Polizei und Justiz, Militär, Wirtschaft und einzelnen Firmen sowie von staatlichen Institutionen wie dem Auswärtigen Amt thematisiert worden, unter dem Aspekt, welche Rolle sie im NS-System gespielt und welchen Beitrag sie zu nationalsozialistischen Verbrechen geleistet hatten. Im Ergebnis wurde deutlich, dass zahlreiche Institutionen und breite Bevölkerungskreise in das NS-System verstrickt waren und an der Umsetzung nationalsozialistischer Zielsetzungen aktiv mitgearbeitet hatten, mit erschreckenden Ergebnissen. Sie entlarvten auch das häufig vorgebrachte Argument vom Nichtwissen nationalsozialistischer Verbrechen als Schutzbehauptung und Lebenslüge, ebenso wie die Entschuldigung, man habe nur widerwillig und unter äußerstem Zwang an bestimmten Aktionen mitgewirkt. Die- ser Prozess der Selbstklärung ist noch längst nicht abgeschlossen. Insbesondere in kleinen Gemeinden gilt noch immer das Gesetz des Schweigens. Diese Verweigerung, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren, hat das Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 auf die Formel gebracht „Die Unfähigkeit zu trauern“.

In ihrer sozialpsychologischen Analyse charakterisierten sie mangelnde Bereitschaft und die Unfähigkeit, sich rational und affektiv mit der NS-Herrschaft und der eigenen Rolle in dieser Zeit auseinanderzusetzen. Dagegen stellte 1983 der Philosoph Hermann Lübbe die These vom „kommunikativen Beschweigen“, der zufolge nach 1945 Anhänger und Gegner des NS-Systems gemeinsam die Vergangenheit beiseite gelassen hätten, um den Aufbau eines neuen demokratischen Systems zu betreiben, wobei er dies augenscheinlich nicht nur als einen nachvollziehbaren, sondern im Kern offenbar auch positiven Prozess begriff. 1987 kritisierte der Schriftsteller Ralph Giordano dies in seinem Buch „Die zweite Schuld“. Er spricht darin „von der Last, Deutscher zu sein“. „Zweite Schuld“ bedeuteten für ihn der Unwille zu einer Aufarbeitung der Verbrechen und Entschädigung der Opfer sowie die Tatsache, dass Mittäter die Möglichkeit erhalten hatten, in der Bundesrepublik wieder in Amt und Würden zu kommen. Wissenschaft, Medien, Politik und politische Bildung haben in der Folgezeit – teilweise unter dem problematischen Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ – intensive Bemühungen unternommen, das Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen bewusst zu machen und die Breite der Beteiligung der Bevölkerung am Funktionieren des NS-Systems ins Bewusstsein zu heben.

Die Beiträge dieses Bandes machen in aller Klarheit deutlich, dass es sich bei der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit nicht nur um Erinnerungsverweigerung, „Verdrängung“ oder „Beschweigen“ handelte. Es gab die aktive Verschleierung und Negierung der Verbrechen oder zumindest der Mitwirkung daran. Sie hatten das Ziel, die Strafverfolgung von Mitgliedern und Beteiligten des Verfolgungsapparates zu erschweren und zu verhindern und Straflosigkeit für diesen Personenkreis zu erreichen. Als Prozessstrategie der Angeklagten und ihrer Verteidiger in den frühen Nachkriegsprozessen gegen NS- Verantwortliche hatte sich dies als gängige Praxis entwickelt. Darüber hinaus ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden, dass sich nach 1945 Netzwerke entwickelten, die die aktive Verfolgung von NS-Verbrechen – vielfach mit Erfolg – zu durchkreuzen suchten. Dazu zählte die katholischen Kirche mit ihrer „Rattenlinie“, in deren Rahmen von Verfolgung bedrohte Täter ins Ausland geschleust wurden, insbesondere in lateinamerikanische sowie in arabische Länder. Staatsanwaltschaften ermittelten nur lässig oder schlugen Verfahren nieder. Gerichte entwickelten eine Rechtsprechung, die viele ungeschoren und die Übrigen meist mit lächerlich geringen Strafen davonkommen ließ. Bundesministerien lieferten Beihilfe zur Strafvereitelung, indem sie von Strafverfolgung bedrohte Täter warnten. Das Bundesjustizministerium entwarf Gesetzesbestimmungen, die auf eine kalte Amnestie hinausliefen. Internationale Verhandlungen über die Strafverfolgung von NS-Tätern verliefen quälend langsam, ohne Interesse an einer raschen Wirksamkeit. Möglich wurde all dies dadurch, dass Personen in verantwortlicher Stellung im Verfolgungsapparat und der Bürokratie des NS-Staates nach 1945 als Politiker, Abgeordnete oder Ministerialbürokraten in Spitzenstellungen der neuen Bundesrepublik einrücken und dort lange Zeit innerhalb dieser Netzwerke die Fäden ziehen konnten. Der Name des FDP- Politikers Achenbach ist für dieses Phänomen geradezu symbolisch geworden. Die gesellschaftliche und politische Etablierung von ehemaligen Funktionsträgern des NS-Systems und Beteiligten an NS-Verbrechen führte zu einer weitgehenden Immunisierung dieses Personenkreises gegen die öffentliche Diskussion des Themas. Erleichtert wurde dies durch Kampagnen der DDR gegen ehemalige Nationalsozialisten in Spitzenpositionen der Bundesrepublik, womit solche politischen Bloßstellungen den Hautgout politischer Diffamierung durch den Feind des eigenen politischen Systems oder durch linksradikale Strömungen erhielt. Dies änderte sich zunächst auch nicht dadurch, dass die 68er-Bewegung diese Anwürfe aufgriff und mit prinzipieller Kritik an der Bundesrepublik verknüpfte. Damit schloss sich ein Schutzring um die Täter, der es ihnen erlaubte, unbehelligt in den Alltag abzu- tauchen, ja sogar – wie in den Fällen Heyde/Sawade oder Schneider/Schwerte – ihre Karriere unter falscher Identität fortzusetzen. Die Entlarvung von Tätern und die Aufdeckung von NS-Verbrechen galten zumindest bis in die 1970er-Jahre nicht selten als Ausfluss sektiererischen Verfolgungseifers. Aus welchen Motiven auch immer Bundesregierung und Parteien diese Entwicklungen unterstützten oder zumindest duldeten, sie enthielten den Opfern die Anerkennung des Unrechts vor, das ihnen angetan worden war. Der Wunsch nach Strafverfolgung war daher für die Überlebenden Ausdruck des Bedürfnisses nach Wiederherstellung der Rechtsordnung und der eigenen Würde. Dass erst öffentli- che Demonstrationen ausländischer Opfer und vor allem Gesetzesverstöße wie die

Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger und die Entführungsaktion um den ehemaligen Gestapofunktionär Lischka, der unbehelligt unter seinem Namenin Köln lebte und arbeitete, den Rechtsprechungsapparat in Gang brachten und schließlich nach einem fairen Prozess 1980 zu einem Urteil führten, das die Schuld der Angeklagten feststellte und damit auch das den Opfern angetane Unrecht dokumentierte, lässt erkennen, dass erst die Skandalisierung öffentliche Aufmerksamkeit weckte und – auch unter der Einwirkung des Echos im Ausland – zur Einleitung von Verfahren führte. Diese Vorgänge sind ein bedrückender Beweis für das Versagen der deutschen Nachkriegsgesellschaft und insbesondere der Justiz, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Erfahrung mit Unrechtssystemen lehrt: Die Aufarbeitung vergangener, von Staats wegen begangener Verbrechen, an denen viele in irgendeiner Form beteiligt waren, ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, der nur in Etappen verlaufen kann und der für unser Land in Beziehung auf den Nationalsozialismus bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Gerade die Virulenz und Aggressivität rechtsextremistischer und neonazistischer Ideen und Bewegungen verbietet jede Bagatellisierung und Beschönigung nationalsozialistischen Unrechts. Sie erfordert inzwischen aber ebenso diekonsequente Auseinandersetzung mit Tendenzen und Entwicklungen in unserer Nachkriegsgeschichte, Unrechtssachverhalte auf sich beruhen zu lassen, endlich einen „Schlussstrich“ zu ziehen, Frieden mit den „Tätern“ zu schließen und zur Tagesordnung überzugehen. Selbst wer als Historiker das Phänomen Nationalsozialismus intensiver zu bearbeiten versucht hat, muss betroffen und beschämt feststellen, dass er als Zeitgenosse die systematische Blockierung der Aufarbeitung nicht hinreichend wahrgenommen und kritisch begleitet hat.