Der Lischka Prozess

 

Die Justiz arbeitet reaktiv. Das ist bei Staatsverbrechen von dieser Art tödlich!

Auszug aus dem Interview mit dem Amsterdamer Professor für Strafrecht: Christian Rüter

Die erste Zeit nach ’45 legt die Justiz nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in Ostdeutschland los, so wie eine Justiz loslegt. Sie reagiert auf Anzeigen. Oder das, was sie selbst wahrgenommen hat. Und sie verfolgt dann das, was naheliegend ist. Örtlich naheliegend, das bedeutet wirklich buchstäblich naheliegend. Ich verfolge das, was in meinem eigenen Gerichtsbezirk passiert. Erstens: Für die Anderen bin ich meistens nicht zuständig. Und zweitens: Ich habe genug zu tun. Das sollen die Nachbarn machen. Ich nehme das, was zeitlich naheliegend ist, also was vor ganz kurzer Zeit passiert ist. Was ist das? Das sind die Endphase-Verbrechen, die Leute, die gegen Kriegsende etwas zu früh eine weiße Fahne herausgehängt haben. Ich mache das, was meiner eigenen Bevölkerung nahegegangen ist, also opfermäßig naheliegt. Das sind die Deutschen. Das sind nicht die Juden, das sind die Deutschen. Das sind die Deutschen, die gehängt worden sind, weil sie diese weiße Fahne herausgehängt haben. Und ich mache das, was auch bezogen auf die Täter naheliegend ist. Ich nehme mir diejenigen Täter vor, bei denen es, sagen wir, politisch korrekt ist, sie vor Gericht zu stellen. Und wohin führt das? Das führt dazu, dass eine Justiz meistens reagiert auf Anzeigen oder Vorfälle, die sie selber festgestellt hat, die vor ihrer eigenen Tür geschehen sind. Denn wo wird Anzeige erstattet? Am Tatort. Auschwitz ist weit weg, Treblinka auch. Die Juden sind mindestens schon drei Jahre weg. Aus den Augen aus dem Sinn – sie sind vergessen. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber sie sind einfach nicht nahe genug am Geschehen. Außerdem gehören sie eigentlich nicht zur Verwandtschaft in dem Sinne. So nahe sind sie uns nicht. Denn es ist natürlich, in puncto „politisch korrekt“ so, dass sich sehr viele Leute in diesen zwölf Jahren auch in Bezug auf Juden die Hände schmutzig gemacht haben. Sie haben etwas gekauft, sie haben denunziert, in komischen Mietverhältnissen gelebt etc. Da braucht man noch nicht einmal an die Gestapo zu denken. Da wird einfach keine Anzeige erstattet. Die größten Prozesse, große „Euthanasie“-Verfahren wie Hadamar, nicht hier in Köln, aber in Frankfurt – diese Ermittlungen beginnen nicht durch die eigene Tätigkeit der Justiz, sondern durch eine Anzeige eines Notars, der neben der Anstalt Hadamar wohnt. Das große Auschwitz-Verfahren von Fritz Bauer fängt an mit einer Anzeige, landet erst in Stuttgart und droht dort eingestellt zu werden. Bauer zieht das Verfahren dann an sich mit einem Kunstgriff, obwohl er eigentlich gar nicht zuständig war. Die Justiz arbeitet reaktiv. Das ist bei Staatsverbrechen von dieser Art tödlich. Denn es gibt eine große Gemeinschaft, die Bevölkerung ist in das Staatsverbrechen verwickelt. Und die Opfer sind tot, oder emigriert und kommen nicht zurück nach Deutschland. Es gibt eine große Gemeinschaft, die eins nicht will: anzeigen. Und wenn die Justiz also selber nicht fragt, sei es durch Forschung, zum Teil historische Forschung, oder durch einfache Ermittlungstätigkeit: „Was ist da nun genau geschehen?“, geschieht gar nichts. Man hätte bei den Nürnberger Prozessen der Alliierten gut aufpassen müssen. Und das hätte man durchaus machen können, aber war dafür nicht motiviert genug. Aber dann hätte man immer sagen müssen: „Was ist geschehen? Alles kann ich nicht verfolgen, schaffe ich nie. Was sind die schlimmsten Sachen? Und was sind dabei die schlimmsten Leute? So, da gehe ich jetzt ran.“ Und das passierte nicht. Schäfer, Matschke und Sprinz – bis zu einem gewissen Grade ist das Verfahren ein Zufallstreffer. Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass die Angelegenheit der Deportation der jüdischen Bevölkerung in Köln einfach durch etwas anderes auf den Tisch kam. Aber ich sage das völlig aus der Theorie raus – ich habe die Ermittlungsakten nie gesehen. Ich habe das Urteil gelesen, ich habe das Urteil veröffentlicht. Aus dem Urteil wird nicht klar, wodurch das Strafverfahren ausgelöst wurde. Denn die antijüdischen Maßnahmen hatten eine niedrige Priorität, low priority. Und low priority bedeutete keine Priorität.