Der Lischka Prozess
Rolf Holtfort (1938–2009) war seit 1973 als Staatsanwalt bei der Kölner Zentralen Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständig für den Frankreich-Komplex. Er war ein sehr kundiger, engagierter und kluger Ermittler. Wie er immer wieder betonte, schauderte es ihn beim Gedanken daran, wie viele Akademiker, insbesondere Juristen, als „hohe Tiere“ im NS-Apparat für das Völkermordverbrechen verantwortlich gewesen waren. Dass Kurt Lischka, Ernst Heinrichsohn und Herbert Hagen wegen Beihilfe zum Mord an den aus Frankreich verschleppten Juden 1980 zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, war sein größter Erfolg. Rolf Holtfort hatte die Anklageschrift vorbereitet und während des Prozesses zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. Ab 1983 ermittelte er gegen Alois Brunner wegen dessen Verantwortung für die Deportation der Juden aus Frankreich 1944/44. Brunner hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Damaskus/Syrien auf. Schließlich stellte die Bundesregierung einen offiziellen Auslieferungsantrag. Holtforts Vorgesetzter, Generalstaatsanwalt Werner Pfromm, dessen Nazi-Vergangenheit erst später ans Licht kam, verbot ihm, in diese Richtung weiter zu ermitteln, und 1985 – ein Jahr später – wurde Holtfort zur Kölner Staatsanwaltschaft versetzt, wo er nicht mehr für die Aufklärung von NS-Verbrechen, sondern für Diebstahl und Einbruch zuständig war. Nur noch einmal, im Juli 1987, erlebte der frühere Kölner Ermittler einen Triumph: In Lyon stand der ehemalige Gestapo-Chef Klaus Barbie, der sich über 30 Jahre in Bolivien versteckt hatte, vor Gericht. Bis zuletzt bestritt der frühere SS-Offizier, 1944 befohlen zu haben, ein jüdisches Kinderheim in Izieu-Ain zu räumen und die 44 dort lebenden Mädchen und Jungen in die Vernichtungslager zu deportieren. Aktenkenner Holtfort, in
Lyon als Zeuge geladen, wies jedoch nach, dass es sich bei dem von Barbie unterzeichneten Dokument nicht um eine Fälschung handelte, wie die Verteidigung behauptete, sondern um ein echtes Schriftstück. Barbie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Während man in Deutschland Holtforts Spezialkenntnisse nicht mehr brauchte, schätzte man ihn in Frankreich als Experten. 1998 wurde Holtfort erneut als Zeuge geladen, diesmal nach Bordeaux im Prozess gegen den französischen Ex-Politiker Maurice Papon. Der Funktionär des kollaborierenden Vichy-Regimes hatte 1942 die Deportationen nach Auschwitz mit veranlasst und organisiert. Papon wurde später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber Holtfort war nach Hause abgereist, nachdem er bedroht worden war – vermutlich von Neonazis. Als er zum zweiten Mal zur Zeugenaussage nach Bordeaux fahren wollte, erfuhr er just in diesem Moment von einem tödlichen Fahrradunfall seines Sohnes. Der Universitätsassistent in Karlsruhe war unter mysteriösen Umständen mit seinem Mountainbike gestürzt. Holtfort fuhr nicht nach Bordeaux. Er war ohnehin seit seiner Versetzung im Jahr 1985 ein gebrochener Mann. Als ich ihn im Jahr 2000 zu Hause in seiner Kölner Wohnung besuchte, erzählte er mir von seinen Depressionen. Rolf Holtfort ist am 24. Dezember 2008 im Alter von 70 Jahren verstorben. Im Informationsmagazin des Kölner Anwaltvereins vom Februar 2009 wurde ihm eine späte Anerkennung für seine Verdienste in den Ermittlungen im „Frankreich-Komplex“ und seine Anklagevertretung im Prozess gegen Kurt Lischka und Herbert Hagen ausgesprochen: „Die Durchführung des Gerichtsverfahrens, geprägt von Takt und Würde, wurde im In- und Ausland als beeindruckend empfunden. Ihm und seinem Lebenswerk gelten unser beruflicher Respekt und unsere menschliche Hochachtung.“
„[…] [Lischka, Hagen und Heinrichsohn] werden angeklagt, in der Zeit vom März 1942 bis Mai 1944 in Frankreich zu der vorsätzlichen und rechtswidrigen, grausam, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangenen Tötung vorsätzlich Hilfe geleistet zu haben. In Ausführung der von Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und anderen aus rassischen Gründen erteilten Befehle zur Vernichtung des europäischen Judentums sind in der Zeit von März 1942 bis Mai 1944 aus dem Bereich des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich mindestens 73 000 jüdische Menschen in insgesamt 73 Eisenbahntransporten überwiegend in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort zum größten Teil in Gaskammern durch das Gas Zyklon B getötet worden. Den Opfern wurde bei ihrer Festnahme vorgetäuscht, sie kämen zu dem Arbeitseinsatz in den Osten. Dadurch wurde erreicht, daß sie ohne ernsthaften Widerstand den Anordnungen der Sicherheitsbeamten und der SS Folge leisteten. Noch im Lager wurde ihnen erklärt, daß sie gebadet würden und dann zu arbeiten hätten. Sie wurden dann nackt und ahnungslos in den Vergasungsraum hineingetrieben, der von außen verriegelt wurde. Das alsdann in die Gaskammer hineingeleitete Zyklon-B-Gas entwickelte durch die Verbindung mit der Luft tödliche Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen nach einigen Minuten qualvoll und unter Todesangst erstickten. Ihre Tötung erfolgte aus Rassenhaß unter Verachtung aller Grundsätze der Menschlichkeit. Den Angeschuldigten wird zur Last gelegt, durch ihre Mitwirkung an den Deportationen nach Auschwitz die von der NS-Führung geplante und in dem Konzentrationslager Auschwitz durchgeführte Vernichtung jüdischer Menschen gefördert zu haben. […] Die Angeschuldigten sind hinreichend verdächtig, die Pläne der NS-Führung um die Vernichtung der jüdischen Menschen in Europa und die Bedeutung des Begriffs ‚Endlösung der Judenfrage‘ gekannt, zumindest aber mit der Möglichkeit der Tötung der deportierten Juden ernsthaft gerechnet und trotzdem einverständlich an den Deportationsmaßnahmen mitgewirkt zu haben. Sie kannten das gewaltige Ausmaß der Deportationen und deren Begleitumstände, die deutlich machten, daß die Deportierten in Auschwitz, dem Endziel der Transporte, einem grausamen Schicksal entgegengingen. […]“
HStaD, Außenstelle Kalkum, Rep. 267 Nr. 260, S. 7143–7145.
Klarsfeld-Gericht wurde zur Festung
„Drei Jahre haben die Staatsanwälte Rolf Holtfort und Cohnen gebraucht, um die 7000 Akten durchzuarbeiten und am 28. Juni 1978 die Anklage wegen Mordes zu formulieren. Der Prozeß soll drei Monate dauern.“
Express, ohne Datum [ca. 24. Oktober 1979]
Der Lischka-Prozeß begann mit Tumult
„Der Staatsanwalt erklärte: ‚In der Zeit von März 1942 bis Mai 1944 sind aus dem Bereich des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich mindestens 73 000 jüdische Menschen in insgesamt 73 Eisenbahntransporten vor allem in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort zum größten Teil in Gaskammern durch das Giftgas Zyklon B getötet worden.‘“
Kölner Stadt-Anzeiger, 24. Oktober 1979
Mit Knüppeln Sturm auf das Gericht
„Der Staatsanwalt wirft Lischka und den ehemaligen SS-Männern Herbert Martin Hagen und Ernst Heinrichsohn Beihilfe ‚zum heimtückischen und grausamen Mord‘ vor – begangen an 73 000 französischen Juden, die in den Gaskammern umkamen.“
Express, 24. Oktober 1979
(Ohne Titel)
„Die Staatsanwaltschaft wies bei der Verlesung der Anklageschrift darauf hin, daß die Angeklagten die Deportation auf grausame und menschenunwürdige Weise vorgenommen hätten. Der Prozeß ist am Nachmittag unterbrochen worden. Das Landgericht Köln ordnete den Aufschub an, nachdem sich Lischka aus gesundheit- lichen Gründen geweigert hatte, sich zu seiner Person zu äußern.“
Rhein-Neckar-Zeitung, 24. Oktober 1979
(Ohne Titel)
„Die Staatsanwaltschaft freilich geht davon aus, daß in Heinrichsohns Pariser Dienstzeit 47 Eisenbahntransporte mit 45 834 zusammengepferchten Juden nach Auschwitz-Birkenau rollten, ins Lager des Todes. Mindestens 24 858 fanden hier ihr schreckliches Ende.“
Kölnische Rundschau, 26. Oktober 1979
(Ohne Titel)
„Die Staatsanwaltschaft freilich ordnet Hagen anders ein. Er habe die Kommuni- kation zwischen all jenen Dienststellen hergestellt, die mit den Judendeportationen beschäftigt waren – und er habe deren Durchführung wissentlich gefördert. Wäh- rend Hagens Tätigkeit in Paris wurden 73 175 Juden nach Auschwitz deportiert, mindestens 49 884 sind dort getötet worden. Ob den Angeklagten eine Mitschuld daran trifft, muß der weitere Prozeßverlauf erst zeigen.“
Kölnische Rundschau, 1. November 1979