Der Lischka Prozess
Die Geschehnisse der Schoah rufen auch heute noch in Großteilen der deutschen Gesellschaft starke Schuldgefühle hervor und erinnern uns an eine der dunkelsten Zeiten der jüngeren Geschichte. Als angehende Lehrkraft für Sozialwissenschaften nehme ich jedoch zugleich wahr, wie bei Schülerinnen das Bewusstsein über die Bedeutsamkeit geschichtlicher Ereignisse und Prozesse zunehmend abnimmt. Nicht selten stellen Schülerinnen die Frage: Was hat Geschichte denn mit mir zu tun? Schulpolitische Entscheidungen, wie die vermehrte Fokussierung der ökonomischen Bildung im Fach Sozialwissenschaften, fördern zudem die Verwässerung der politischen Bildung. Erinnerungskultur und Geschichte als wichtiger Bestandteil einer wehrhaften Demokratie scheinen trotz wachsendem Antisemitismus, Rechtsextremismus und nationalistischem Gedankengut in der schulischen Bildung an Stellenwert zu verlieren. Im Rahmen eines Seminars setzte ich mich daher intensiv mit Möglichkeiten einer schülerinnenorientierten Schoah Education im Unterricht auseinander. Eine Idee, Schülerinnen die Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart zu verdeutlichen, wichtige Fragen nach (historischer) Gerechtigkeit zu thematisieren und sie für diese zu sensibilisieren, ist, einen vorrangig akteur*innenzentrierten Zugang zu wählen.
Von Tom Woudstra (Lehramtsstudent für die Fächer Sozialwissenschaften, Englisch und Niederländisch an der Universität zu Köln)
Skandalträchtiger Widerstand als Hallo-Wach-Effekt?
Beate Klarsfelds Widerstand im Kampf für Gerechtigkeit: Gesellschaftlicher Einfluss damals und unterrichtliche Potenziale heute
„Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ ~ Bertolt Brecht
Auch heute noch ist das Entsetzen über die Gräueltaten des Holocaust und die an diesen Beteiligten enorm. Ebenso bleibt ein großes Unverständnis über die weitestgehend passive Mehrheit innerhalb der Gesellschaft. Den wenigen Widerstandskämpferinnen wie den Geschwistern Scholl oder Georg Elser wird daher noch heute würdigend gedacht. Weitestgehend unbeachtet und unbekannt scheinen dagegen jene Menschen, die sich nach Ende des zweiten Weltkriegs antifaschistisch engagiert haben und historische Gerechtigkeit für die Opfer des Holocausts einforderten. Ein Beispiel hierfür ist die deutsche Journalistin Beate Klarsfeld, die gemeinsam mit ihrem französischen Mann und anderen Mitstreiterinnen aktivistisch gegen die in Deutschland lebenden Alt-Nazis vorgegangen ist und für Gerechtigkeit kämpfte.
Dabei stellt sich die Frage, welchen Einfluss Beate Klarsfeld damit auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von historischer Gerechtigkeit hat(te)? Hier wird behauptet, dass Beate Klarsfeld mit ihrem Widerstand gegen die Straffreiheit der NS-Verbrecher einen signifikanten Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Bewusstwerdung der „NS-Altlasten“ der Nachkriegszeit hatte und ihr ziviler Ungehorsam bis heute als geeigneter Zugang für die schulische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen gesellschaftlichen Folgen nach 1945 fungieren kann.
Beate Klarsfeld und ihr Aktivismus als gesellschaftlicher Skandalmoment
In den Jahren nach Ende des zweiten Weltkriegs fand sich die deutsche Gesellschaft in einem Stadium zwischen emotionaler Leere und Zukunftsgerichtetheit wieder. Viele Bürger*innen versuchten ihre Kriegserfahrungen und die Verbrechen der Schoah zu verdrängen, sodass die Aufarbeitung der Schreckenserlebnisse schnell einem Wiederaufbaupragmatismus wich. Als noch junge Frau irritierte Beate Klarsfeld die fehlende Verantwortungsbewusstwerdung der Mehrheitsgesellschaft. Das Kennenlernen ihres Mannes Serge, ein französischer Jude, politisierte Beate Klarsfeld und ließ sie „eine Deutsche mit Gewissen und Bewusstsein“ (Leick 2015: S. 148) werden, die der Verdrängungshaltung der deutschen Gesellschaft mit zunehmendem Unverständnis begegnete. Als schließlich Ex-NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger 1966 Bundeskanzler wurde, ohne dass seine Vergangenheit problematisiert wurde, verspürte Klarsfeld die Pflicht, sich gegen diese Kanzlerschaft aufzulehnen. Nachdem die Bekanntmachung von Kiesingers Nazi-Vergangenheit auf journalistischem Wege nicht den erhofften Effekt hatte, ohrfeigte sie den Kanzler im Mai 1968 und führte damit wohlkalkuliert einen Skandal herbei. Diese Aktion machte Beate Klarsfelds Botschaft bundesweit bekannt und initiierte die öffentliche Thematisierung Kiesingers Nazi-Vergangenheit. Im Jahr 1971 sorgte Beate Klarsfeld erneut für einen medienwirksamen Skandalmoment, indem sie gemeinsam mit weiteren Verbündeten die Entführung des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Kurt Lischka plante, der nach Ende des Krieges zwar in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden war, jedoch in Deutschland unbehelligt als Prokurist arbeiten konnte. Dass NS-Täter wie Lischka unbestraft inmitten der Gesellschaft leben konnten, glich für die Klarsfelds skandalösem Unrecht, auf das sie skandalträchtig aufmerksam machen wollten. Die Entführung Lischkas missglückte jedoch und blieb medial und juristisch unbeachtet. Erst Beate Klarsfelds mediales Tatbekenntnis und ihre Verurteilung nach öffentlichkeitswirksamer Selbstübergabe an die Polizei, bei gleichzeitig andauernder Straffreiheit für Lischka, sorgten für den erhofften Skandalmoment und stellten Gerechtigkeitsvorstellungen gesellschaftlich zur Diskussion.
Es kann sicherlich diskutiert werden, ob eine Ohrfeige oder eine Entführung der Definition eines auf Gewaltfreiheit ausgelegten zivilen Ungehorsams entspricht; die intendierte Wirkung der Aktionen wurde jedoch sicherlich nicht verfehlt. Die unkonventionellen Aktionen wurden ausgebreitet in der medialen Berichterstattung thematisiert, empörten und sorgten für einen unerwarteten Schock innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses. Unabhängig der individuellen Bewertung der einzelnen Aktionen erzeugte dieses pointierte Anklagen der Missstände eine kollektive Irritation. Beate Klarsfeld wurde zur Stimme für eine gerechte Aufarbeitung der NS-Verbrechen, die den erinnerungskulturellen Schlafmodus in Deutschland beenden sollte.
Beate Klarsfeld als Initiatorin gesellschaftlichen Umdenkens
Im Zuge ihrer verschiedenen Aktionen des zivilen Ungehorsams wurde Beate Klarsfeld Ende der 1960er Jahre zur wahrnehmbaren politischen Stimme im Kampf gegen NS-Täter. Die Skandalmomente einer ersten Phase des zivilen Ungehorsams zielten dabei zunächst auf die Bekanntmachung der Vergangenheiten dieser Täter. Mit ihren personenbezogenen Protestaktionen löste Beate Klarsfeld vor allem affektiv-emotionale Reaktionen in der Zivilgesellschaft aus. Menschen, die eine fehlende Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen und das Zusammenleben mit den Verbrecherinnen des Holocausts in den Nachkriegsjahren schlichtweg hinnahmen, wurden durch den Aktivismus von Beate Klarsfeld damit konfrontiert. Die kollektive Bewusstwerdung, dass Täter, die beispielsweise die Deportation von tausenden jüdischen Menschen organisierten, straffrei in der gesellschaftlichen Mitte leben konnten, empörte schließlich weite Teile der deutschen Gesellschaft. Gerade Gerechtigkeitsgefühle sind es, die eine Bewusstwerdung auslösen und folglich in einem kollektiven Verständnis davon münden können, was als gerecht empfunden wird (vgl. Hellmann 2023: S. 78). Beate Klarsfeld schaffte es gerade über diese affektive Ebene die Gesellschaft anzusprechen und sie aus ihrer Unbeteiligtheit herauszuholen. Durch die mediale Berichterstattung und die juristischen Prozesse, sowohl gegen Beate Klarsfeld selbst als auch später gegen die NS-Täter, begannen in den 1970ern im Besonderen die jungen gesellschaftlichen Akteurinnen in der BRD ihre eigenen Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen zu reflektieren und sich der Skandalträchtigkeit der Straffreiheit der NS-Verbrecher bewusst zu werden. In diesem Bewusstwerdungsprozess kommt vor allem dem juristischen Verfahren – ungeachtet der eigentlichen Rechtsprechung – mit seiner sozial-kulturellen Dimension, eine zentrale Funktion zu, da sich in diesem „emotive Dynamiken entfalten und unter Einwirkung der eigenen Logiken und Dynamiken des Rechts eine Transformation erfahren [lässt]“ (ebd.: S. 91).
Ihr medienwirksames Auftreten forderte jedoch nicht nur zum Umdenken im Umgang mit Alt-Nazis auf, sondern zielte auch auf das Durchbrechen der Marginalisierung jüdischer Mitmenschen ab. Beate Klarsfeld trat in ihrem Handeln stets als eine Art Sprachrohr für die jüdischen Mitbürgerinnen in Deutschland auf. Nun kann man fragen, ob sie als Nicht-Jüdin, und demnach Nicht-Betroffene der Schoah, in diesen Belangen überhaupt eine legitime Sprecherinnenposition hat. Vielleicht ermöglichte ihr diese fehlende Direktbetroffenheit jedoch gerade, die schuldbeladene deutsche Mehrheitsgesellschaft anzusprechen und ihre Passivität aus einer authentischen Zwischenposition heraus zu adressieren. Die jüdischen Überlebenden selbst befanden sich hierfür innerhalb der deutschen Gesellschaft in einer zu komplexen Situation, denn „[d]ie Erfahrung absoluter Ohnmacht und die berechtigte Angst vor dem Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft machte es […] schwer, sich einen differenzierten und vielfältigen Zugang zur bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu verschaffen“ (Klein 2008: S. 136). In diese Diskurslücke konnte Beate Klarsfeld stoßen und die Position der Betroffenen sichtbar machen. Aufbauend auf die durch die Skandalmomente von Beate Klarsfeld geschaffene Sensibilisierung für die jüdische Situation, ließ gemeinsames Auftreten, beispielsweise in Form der Proteste der Militants de la Mémoire zu Beginn des Prozesses gegen Kurt Lischka, eine im breiteren Diskurs wahrgenommene jüdische Stimme entstehen, die so Veränderungsprozesse in der gesellschaftlichen Bewusstseinshaltung auslösen konnte.
Beate Klarsfeld verstand es also, nach den anfänglich jenseits der juristischen Strukturen stattfindenden Protesten und Skandalisierungen zur Bekanntmachung der Missstände, in einem zweiten Schritt die Wirkung justizieller Prozesse zu nutzen, um ein gesellschaftliches Umdenken einzuleiten. Insbesondere die bereits angesprochene Inhaftierung von Beate Klarsfeld selbst, bei gleichzeitiger Ignoranz der als schwerwiegender wahrgenommenen Gräueltaten von SS-Führer Lischka, schaffte den Kontrast, der zu einer Dynamik der emotionalen Empörung führte. Hieran wird deutlich, dass Beate Klarsfeld die Gerichtsprozesse vor allem als Plattform verstand, um das Ungleichgewicht von Gerechtigkeit zu exemplifizieren und die Gesellschaft emotional aufzurütteln. Diese Logik ist von zentraler Bedeutung, um Beate Klarsfelds Einfluss für die Transformation des erinnerungskulturellen Denkens und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmens zu verstehen. Nur so wurde die Aushandlung von Gerechtigkeitsvorstellungen auf einer emotionalen Ebene für eine breite Masse der Gesellschaft möglich.
Beate Klarsfeld als Zugang und Ergänzung der heutigen Shoah Education
Die historische Bedeutung Beate Klarsfelds für gesellschaftliches Umdenken und Wachrütteln ab Ende der 1960er Jahre wurde vorangehend dargelegt. Ihre mutige Widerstandsarbeit hält jedoch auch heute noch einen wichtigen Zugang für die erinnerungskulturelle Arbeit der Shoah Education bereit und zeigt auf, wie Schülerinnen aus und an Geschichte lernen können. Im vorherigen Abschnitt wurde die Rolle von Emotionen zur Wahrnehmung der Relevanz von Themen bereits hervorgehoben. Auch für eine gelungene Unterrichtsgestaltung kann die emotive Ebene zielführend genutzt werden. Emotionales Lernen macht es Schülerinnen möglich, sich den eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch Empfindungen wie Trauer und Wut, bewusst zu werden und so über die geschichtlichen Vorkommnisse aktuelle lebensweltliche Bezüge herzustellen. Besonders eine akteur*innenzentrierte Auseinandersetzung mit Geschichte bietet hier breite Anknüpfungspunkte für Lernende und ermöglicht das empathische Hineinversetzen in historische Prozesse.
Gleichzeitig haben Lehrerinnen eine große Verantwortung, Schülerinnen nicht emotional zu überfordern oder diese ihren eigenen Gefühlswelten zu überlassen. Gerade deshalb bietet sich eine Annäherung an die Thematisierung des Holocausts über die Person Beate Klarsfeld aus drei Gründen an. Zum einen können ihre Protestform und ihr Verständnis von (historischer) Gerechtigkeit als Zugang zu und Einüben von Emotionalem Lernen genutzt werden. Zum anderen kann die Skandalträchtigkeit der Aktionen von Beate Klarsfeld und deren Wirkung auf die Gesellschaft in der Post-Holocaust-Zeit für eine oft als Aneinanderreihung von historischen Fakten wahrgenommene Holocaust Education einen alternativen Zugang bieten. So lassen sich zum Beispiel emotional belastende Schilderungen von Schoah-Opfern als Einführung in die Thematik umgehen. Drittens kann die vor allem im Geschichtsunterricht stattfindende Thematisierung des Holocaust als solchen um eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Folgen des Genozids, der Neuverhandlung von Gerechtigkeitsvorstellungen, Recht, Moral und Widerstand im Sinne einer kritischen politischen Bildung im Sozialwissenschaftsunterricht ergänzt werden. Schüler*innen können mit Strategien ausgestattet werden, Recht und Unrecht multiperspektivisch zu betrachten und durch die Metaposition des Gerichts zu kritischen Urteilen gelangen. Man beachte hierbei auch die Anknüpfungspotenziale mit aktuellen Debatten um Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen (Klimaproteste, Asylrecht).
Fazit
In der vorangegangenen Argumentation wurde herausgestellt, dass die Person Beate Klarsfeld in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine signifikante Rolle einnahm und ihr Handeln auch für die heutige, retrospektive Betrachtung des Holocausts und seiner Auswirkungen vielseitige Potenziale hat. In den ersten beiden Abschnitten wurde dazu aufgezeigt, dass Beate Klarsfeld einen zentralen Einfluss auf die gesellschaftliche Bewusstwerdung der Gerechtigkeitsschieflage der Nachkriegszeit hatte und so ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit Nazi-Verbrechern und der jüdischen Gemeinde initiierte. Ihre Aktionen waren zunächst ein aufklärendes Schockmomentum für die Gesellschaft und sorgten für die notwendige intensivere Auseinandersetzung mit den Verbreche(r)n des Holocausts. Ihre Skandalaktionen pointierten die Ungerechtigkeitslogiken des Rechts so, dass die Bürger*innen allmählich ihre passive Verdrängungshaltung und Indifferenz gegenüber den straffrei lebenden Alt-Nazis überwanden. Ohne den nachhaltigen Einsatz von Beate Klarsfeld hätte es wahrscheinlich weder eine kritische Debatte um die Kanzlerschaft Kiesingers noch um die Straffreiheit von NS-Straftätern gegeben, die deren spätere Verurteilung erst ermöglichte. In einem dritten Abschnitt wurde ergänzend aufgezeigt, welches didaktische Potenzial die Auseinandersetzung mit der Person Beate Klarsfeld für den Unterricht zum Holocaust und seinen Folgen bereithält. Nicht nur bieten ihre Aktionen des Widerstands einen Alternativzugang zur Thematisierung der Schoah an sich, die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Beate Klarsfeld eröffnet auch die Chance, Gerechtigkeitsvorstellungen auszuloten und anhand der Analyse der gesellschaftlichen Dynamiken der Nachkriegszeit wichtige erinnerungskulturelle Lehren zu verdeutlichen.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die beeindruckende und bis heute inspirierende Persönlichkeit Beate Klarsfeld einen großen gesellschaftlichen Einfluss hatte. Aus einem Gefühl tiefer Ungerechtigkeit heraus widmete sie sich über Jahrzehnte hinweg dem Kampf für Gerechtigkeit und entwickelte sich zum herausragenden Beispiel für Courage und erfolgreichen zivilen Ungehorsam.
„Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ ~ Bertolt Brecht
Literaturverzeichnis
Hellmann, Jenny (2023): Trauma, Kollektivgefühle und das Recht. Transitional Justice in Argentinien, Frankfurt am Main.
Klein, Anne (2008): „Militants de la Mémoire”. Repräsentationen jüdischen Engagements in den 1970er Jahren, in: Stengel, Katharina/Konitzer, Werner (Hrsg.): Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt am Main, S. 126-147.