Der Lischka Prozess

 

Beate Klarsfeld: Eine Einordnung des zivilen Ungehorsams

Eine Einordnung des zivilen Ungehorsams von Beate Klarsfeld

Kurzbiografie des Autors: Mein Name ist Michael Wysocki, und seit 2019 studiere ich Lehramt für die Fächer Politik/Wirtschaft und Biologie. Mir liegt es am Herzen, dass wir als Gesellschaft soziale Bewegungen nicht vorschnell verurteilen, sondern durch einen theoriegeleiteten Diskurs zu einer differenzierten Bewertung der Handlungen sozialer Bewegungen gelangen.

Der folgende Essay wird sich mit der Frage beschäftigen, ob Beate Klarsfelds Aktionen aus einer theoretischen Sichtweise des zivilen Ungehorsams zu erklären sind. Obwohl der Aktivismus, der von Beate Klarsfeld ausging, als ein Idealbeispiel für zivilen Ungehorsam in Erinnerung bleibt, ist die theoretische Einordnung ihrer Bewegung nicht ganz eindeutig und hängt von der Auslegung dessen ab, was als ziviler Ungehorsam verstanden wird. Der folgende Essay verfolgt den Ansatz, Beate Klarsfelds politische Handlungen in die Theorie des zivilen Ungehorsams einzubetten und Spannungen bei diesem Einordnungsprozess zu reflektieren.

Um einen Ausgangspunkt zu schaffen, werden im Folgenden die Theorien des zivilen Ungehorsams betrachtet. Die grundlegende Frage bei der Theorie des zivilen Ungehorsams besteht darin, ab wann dieser politisch zu rechtfertigen ist. Genauer gesagt wird der Frage nachgegangen, ab welchem Punkt eine Minderheit durch eine Mehrheit so ungerecht behandelt wird, dass es für die Minderheit legitim wird, gegen die eigene Friedenspflicht zu verstoßen (vgl. Braune 2017 S.11f.). Das ist eine komplizierte Frage, zu der es unterschiedliche theoretische Vorstellungen gibt. Ziviler Ungehorsam wird von einer Gruppierung begangen, die die Rechts- und Verfassungsordnung als solche anerkennt, mit Ausnahme der Gesetze, die die Gruppierung als ungerecht empfindet (vgl. ebd. S.16). Eine Abgrenzung zu Aufständen oder Revolutionen lässt sich am Merkmal des Gewaltverzichtes ausmachen. Die Akteurinnen des zivilen Ungehorsams sehen sich selbst demzufolge als politische Bürgerinnen, die nicht außerhalb des Systems stehen (vgl. ebd. S.15). Diese Abgrenzung verläuft jedoch fließend, da die Frage, wann der Punkt erreicht wird, an dem eine Gruppierung zu viele Gesetze als ungerecht empfindet und sich somit gegen die gesamte Gesellschaft richtet, nicht eindeutig festzulegen ist (vgl. Arendt 1986 S. 138).

Weiterhin lässt sich ziviler Ungehorsam durch das Kriterium der Öffentlichkeit von „Sabotage oder Untergrundaktivitäten“ (Braune 2017 S. 18) abgrenzen. Kriminelle Gruppierungen akzeptieren die Verfassung der jeweiligen Gesellschaft nicht. Eine Bestrafung wird von ihnen nur akzeptiert, wenn sie enttarnt werden und die Strafe physisch vollstreckt wird (vgl. Arendt 1986 S.137). An dieser Stelle ist eine weitere Abgrenzung festzumachen, denn ziviler Ungehorsam kennzeichnet sich dadurch, dass die Gruppe, von der der zivile Ungehorsam ausgeführt wird, gerichtliche Strafen für Gesetzesbrüche akzeptiert. Somit kann sich die Bevölkerung einer Gesellschaft darüber im Klaren sein, dass die Gehorsamsverweigerer*innen ihnen ebenfalls als ein Teil dieser Gesellschaft gegenübertreten (vgl. Braune 2017 S. 18). Abschließend sollte erwähnt werden, dass alle Handlungen einer Gruppe, die zivilen Ungehorsam begeht, auf eine ganz bestimmte politische Strategie zurückzuführen sind, wie z. B. die Strategie des gewaltlosen Widerstands von Mahatma Gandhi.

Im Folgenden wird der zivile Ungehorsam von Beate Klarsfeld, ihrem Mann, dessen Vater von Nazis ermordet worden ist, und ihren Unterstützerinnen in den theoretischen Rahmen eingeordnet. Sie organisierten in den 1970er Jahren Aktionen gegen Naziverbrecherinnen (vgl. Klein 2008 S.126). Zunächst ist es offensichtlich, dass es sich um einen ungerechten Zustand handelt, den diese Gruppierung nicht akzeptieren möchte. Die Ungerechtigkeit besteht darin, dass ein großer Teil der Nazi-Verbrecherinnen ein straffreies Leben in guten privilegierten Positionen führte und sich ihrer Verantwortung entziehen konnte. Diese Ungerechtigkeit ergibt sich nicht nur aus der Perspektive der jüdischen Gemeinschaft, auch die Mehrheitsgesellschaft würde der Aussage zustimmen, dass menschenunwürdige Straftaten nicht ungesühnt bleiben dürfen. Hieraus leitet sich das politische Ziel von Beate Klarsfeld ab: Personen, die während des Zweiten Weltkrieges Straftaten gegen Juden begangen haben, müssen einen Prozess bekommen. Konkret wollte sie durchsetzen, dass ein Zusatzabkommen ratifiziert wird, welches ermöglichen würde, dass in Frankreich verurteilte Nazi-Verbrecherinnen in Deutschland erneut angeklagt werden können (vgl. ebd. S. 138). Ohne gezielten politischen Druck in diese Richtung wäre das nicht passiert, denn dafür wäre es notwendig gewesen, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft intensiv mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzte. Dies war in den 1970er Jahren nicht der Fall. Um diesen Zustand zu überwinden, waren Beate Klarsfelds Ansicht nach provozierende Aktionen notwendig (vgl. ebd S. 132). Zudem leitet sich aus dem beschriebenen ungerechten Zustand eine Legitimation ab, die eigene Friedenspflicht gegenüber dem Staat zu brechen. Dies lässt sich durch das folgende Zitat untermauern:

„Die Friedenspflicht des demokratischen Rechtsstaates ist jedoch nur eine Prima-facie-Verpflichtung, keine unbedingte. Denn wenn demokratische Mehrheiten irren und ungerechte, gefährliche oder törichte Gesetze beschließen oder anwenden, dann können diese einen Grad der Ungerechtigkeit, der Gefährlichkeit oder der Torheit erreichen, den Einzelne oder Gruppen von Bürgern – allen voran die von ihnen betroffenen Minderheiten – nicht zu dulden haben.“ (Braune 2017 S. 11).

Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die Argumente, die einerseits nahelegen, der Aktivismus von Beate Klarsfeld sei kein ziviler Ungehorsam, und andererseits von Argumenten, die untermauern, aus welchen Gründen es sich um eben diesen handelt. Wird der zivile Ungehorsam aus der konservativ kritischen Perspektive betrachtet, kann kritisiert werden, die Entscheidung, die eigenen politischen Ziele über gesetzeswidrige Handlungen zu verfolgen, sei sowohl undemokratisch als auch nicht notwendig. Diese Aussage liegt in der Möglichkeit begründet, über freie Meinungsäußerungen und Petitionen Ziele von gesellschaftlichen Gruppierungen auf demokratischen Wegen zu verfolgen (vgl. Braune 2017 S.10). Doch auch Mehrheiten innerhalb einer Demokratie können sich irren, sogar in dem Sinne, dass ihnen nicht bewusst ist, dass ihre eigenen Grundsätze durch ihr gesellschaftliches Handeln oder auch Nichthandeln verletzt werden. In einem solchen gesellschaftlichen Zustand leuchtet es ein, durch aufsehenerregende, symbolische und auch gesetzeswidrige Handlungen die Mehrheitsgesellschaft wachzurütteln, da die Aktionen auf ungerechte und nicht tragbare Zustände aufmerksam machen. Dass es sich in der Zeit des Aktivismus von Beate Klarsfeld um eben diesen beschrieben Zustand handelt, zeigt sich eindrücklich an dem Umstand des Nichtrücktritts von Kiesinger, nachdem sein Name im Braunbuch auftauchte, das Namen von Ex-Nazigrößen enthielt (vgl. Klein S. 126f.). Insofern ist die Ohrfeige von Beate Klarsfeld eine symbolische Handlung, die ganz eindeutig auf einen ungerechten Zustand hinweist und die Strategie verfolgt, mediale Aufmerksamkeit zu erregen.

Ein weiteres Argument, welches aus der konservativen Perspektive hervorgehoben wird, bezieht sich auf ein Problem, welches in der Subjektivität des Gerechtigkeitsempfindens gründet. Es wird darauf verwiesen, dass eine Willkür in diesem Empfinden liege und eine Gesellschaft, in der jede Person entscheiden könne, ob sie Gesetze nun annimmt oder nicht, in einer Anarchie ende (vgl. Braune 2017 S.20). Hier lässt sich Folgendes entgegnen: In bestimmten Fällen haben Menschen keine andere Möglichkeit als gegen Gesetze zu verstoßen. So ein Fall liegt dann vor, wenn das Befolgen von Gesetzen die eigene moralische Integrität gefährden würde. Denn ein Subjekt muss nicht nur mit seinen Gesellschaftsmitgliedern leben, sondern auch mit sich selbst. Wenn das Befolgen eines Gesetzes bedeuten würde, dass ein Individuum nicht mehr mit sich selbst leben kann, weil es gegen seine eigenen moralischen Grundsätze verstößt, dann hat das Individuum keine Wahl, als gegen geltendes Recht zu verstoßen (vgl. Arendt 1986 S.126f.). Dieser Gedanke ist überzeugend, denn wer möchte in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen stumpfsinnig Gesetze befolgen und ihren eigenen moralischen Kompass über Bord werfen? Wobei an dieser Stelle unterstrichen werden muss, dass es sich bei diesem Gedanken um eine moralische und nicht um eine juristische Bewertung handelt. Noch überzeugender wird dieser Gedanke, wenn er auf Beate Klarsfeld selbst bezogen wird: Sie ist eine Frau, die einen französischen Mann liebt, dessen Vater während des Holocausts auf perfide Art und Weise ermordet wurde, während mitschuldige Personen, die in Frankreich verurteilt worden sind, in Deutschland ein behagliches Leben führen. Aus dieser Perspektive wirkt ein Nichthandeln unerträglich. Es ist sogar bewundernswert, wie es dem Ehepaar gelingt, einen kühlen Kopf zu bewahren und ihre Aktionen zu planen.

Auf den ersten Blick werfen einige Aktionen die Frage auf, inwieweit sie dem Kriterium der Gewaltfreiheit entsprechen. Da wäre die Ohrfeige des damaligen Bundeskanzlers, die versuchte Entführung von Lischka und das Faktum, dass Serge Klarsfeld Kurt Lischka einen ungeladenen Revolver an den Kopf gehalten hat und abdrückte (vgl. Klein S. 126 ff.). Betrachtet wird zunächst die Ohrfeige. Dieser Akt der Gewalt relativiert sich, wenn sich vergegenwärtigt wird, warum die Gewaltlosigkeit ein Abgrenzungskriterium darstellt. Sie hat die Funktion, zivilen Ungehorsam von Aufständen und Revolutionen abzugrenzen (vgl. Braune S.18). Die Gewalt, die von solchen Gruppierungen ausgeht, zielt darauf ab, das gesamte System umzustürzen und nimmt billigend in Kauf, dass Menschen verletzt oder getötet werden. Es war nicht das Ziel der Ohrfeige, Kiesinger körperlichen Schaden zuzufügen, vielmehr sollte mit diesem symbolischen Akt der Sühne Aufmerksamkeit erregt werden. Widmen wir uns nun der Entführung. Hier stellt sich tatsächlich die Frage, inwieweit der Zweck noch die Mittel heiligt. Denn es kann von einer Gewaltspirale gesprochen werden: Beate und Serge Klarsfeld verfolgen das Ziel, dass sich Kurt Lischka seinem Haftbefehl in Frankreich nicht weiter entzieht. Dafür fordern sie ihn zunächst auf, sich zu stellen, doch es passiert nichts. Dann wollen sie seine Reaktion filmen, aber die Presse nimmt keine Notiz, selbst nach einem Entführungsversuch kam keine Reaktion. Daraufhin entsprechen sie dem Kriterium der Öffentlichkeit, indem sie sich selbst öffentlich zu der Tat bekennen, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen (vgl. Klein S.139 f.). Hieran wird deutlich, worin die Abgrenzung zu Kriminalität liegt: Sie bekennen sich, mit dem Ziel, die Mehrheitsgesellschaft wachzurütteln, zu der Tat, auch wenn für sie dabei das Risiko besteht, für längere Zeit inhaftiert zu werden. Demzufolge gilt ihr Motiv ihrem politischen Interesse und ihr eigenes Wohlergehen, in diesem Fall ihre Freiheit, steht für sie hinten an. Somit ist eine deutliche Abgrenzung zur reinen Kriminalität zu erkennen. Bis zu diesem Zeitpunkt liegen die Aktionen der Gruppierung aus meiner Sicht im Rahmen des zivilen Ungehorsams. Was sich aus meiner Sicht nicht mehr rechtfertigen lässt, ist die Handlung von Serge Klarsfeld, Kurt Lischka Todesangst leiden zu lassen. Denn diese Handlung war nicht öffentlich und geschah aus dem persönlichen Motiv der Rache dafür, dass Kurt Lischka zuvor einen Revolver auf eine Gruppe von Juden gerichtet hatte, die ihn zur Rede stellen wollten (vgl. ebd. S.140). Aus dieser einzelnen Handlung von Serge Klarsfeld kann jedoch nicht der gesamten Gruppe der zivile Ungehorsam abgesprochen werden. Deutlich wird hier jedoch ein allgemeiner Konflikt, den ziviler Ungehorsam mit sich bringt, der sich in der Frage äußert, was eine Gruppe zivilen Ungehorsams tun soll, wenn sich von der Mehrheitsgesellschaft keine Reaktion zeigt. Wie weit kann diese Gruppe in ihren Aktionen gehen, bis sie nicht mehr als ziviler Ungehorsam angesehen werden kann und dadurch ihre politische Legitimation verliert?

Schließlich kommt dieser Essay zu folgendem Fazit: Die Aktionen, die von Beate und Serge Klarsfeld und ihren Unterstützer*innen ausgingen, sind nicht nur als ziviler Ungehorsam zu klassifizieren, sondern zeigen auch eindringlich, warum ziviler Ungehorsam aus demokratischen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken ist. Ihre Aktionen haben im Wesentlichen dazu beigetragen, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und Ex-Nazigrößen in Köln der Prozess gemacht worden ist. Aus diesem Essay geht auch hervor, wie wichtig es ist, Formen des zivilen Ungehorsams theoretisch zu reflektieren und die Frage zu stellen, ob eine bestimmte Form des Ungehorsams auch als ziviler Ungehorsam zu bezeichnen ist. Dabei ist es offensichtlich nicht möglich, starrsinnig Definitionen abzurufen. Für jedes Kriterium benötigt es eine Form des überlegten Abwägens und des gesellschaftlichen Diskurses. Ist das Ergebnis, dass es sich um politisch legitimen zivilen Ungehorsam handelt, dann sollte konsequenter Weise auf die Forderungen der Bewegung eingegangen werden.


Literaturverzeichnis

Braune, Astrid (2017): Ziviler Ungehorsam: Die Theorie der Bürgerbeteiligung. Hamburg.

Klein, Anne (2008): „Militants de la Mémoire”. Repräsentationen jüdischen Engagements in den 1970er Jahren, in: Stengel, Katharina/Konitzer, Werner (Hrsg.): Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt am Main, S. 126-147.

Arendt, Hannah (1986): Über die Revolution. München.