Der Lischka Prozess

 

Vichy-Razzia

Razzia – Internierung – Deportation

Paris 1942

Inhalt:

Annette Müller „Die Razzia“ – Einleitung

  1. Vor dem Krieg, 1929-1939
  2. Der Krieg, 1940-1942
  3. Die Razzia a 16.Juli 1942
    • 3.1 Wannsee-Konferenz
    • 3.2 Razzia des Veldrome d’Hiver
    • 3.3 Lager Beaune-la-Rolande
    • 3.4 Lager Drancy
    • 3.5 Lemarcke-Asyl
  4. Überleben und Anerkennung
1. Vor dem Krieg

Das erste Kapitel beginnt damit, dass Annette aus der Ich-Perspektive ihren familiären Hintergrund schildert. 1929 migrierten ihre Eltern aus Polen (Galizien) nach Frankreich. In Frankreich erhielten die polnischen Juden einen Aufenthaltsstatus, wurden aber nicht eingebürgert. Die in Frankreich geborenen Kinder erhielten allerdings durch das jus soli direkt bei der Geburt die französische Staatsbürgerschaft. Immigrant*innen aus Osteuropa waren integriert, aber auch gesellschaftlich und kulturell diskriminiert. Annettes Großvater väterlicherseits war von Beruf Müller gewesen und hatte in seinem Dorf in Galizien großes Ansehen genossen, zusammen mit seiner Frau und den sieben Kindern. Der Großvater verstarb früh an Schwindsucht (Lungenerkrankung), so dass die Großmutter die alleinige Verantwortung für die Kinder tragen musste. Annettes Vater hätte gerne studiert, absolvierte allerdings eine Lehre als Schneider, so dass sein verdientes Geld für die Ausbildung der jüngeren Brüder eingesetzt werden konnte. 

„Nur wenn die älteren Brüder arbeiteten, konnten die jüngeren studieren. So ging er zu einem Schneider in die Lehre, während sein kleiner Bruder Pierre, der später zu ihm nach Paris kam, Elektriker werden konnte – ein vornehmer Beruf, bei Juden ungewöhnlich. Ein Elektriker ist der Intellektuelle auf dem Bau. […] Es gab keinen, der nicht davon träumte, daß seine Söhne mal einen so hohen Rang erreichten.“

Die Eltern mütterlicherseits waren sehr religös und sehr arm. Sie hatten sechs Kinder, die vom Lohn des Vaters, der als Fiedler auf Hochzeiten und anderen Festen spielte, ernährt werden mussten. Noch in Galizien heirateten die Eltern von Annette Muller, und 1931 emigrierte das Ehepaar mit den beiden Söhnen Henri und Jean nach Paris.  „Kaum war, ein paar Monate nach ihrer Ankunft in Paris, mein Bruder Henri geboren, wurde meine Mutter wieder schwanger. Mein Vater war zwanzig, meine Mutter einundzwanzig, bald sollten sie, fremd in einem Land, dessen Sprache sie nicht kannten, vier Mäuler ernähren.“ Der Vater arbeitete als Schneider, verdiente allerdings sehr wenig. Die Familie war arm. 1933 wurde Annette geboren, zwei Jahre später der kleine Michel. Annette war eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, der ihrer Meinung nach von den Eltern stärker umsorgt wurde als sie selbst.

„Am Umzugstag, in dem allgemeinen Drunter und Drüber, versteckte ich Michel in der untersten Schublade des Schrankes. Es dauerte lange, bis er gefunden wurde. Ich hatte gehofft, sie würden ihn vergessen.“ Annette weinte in ihrer Kindheit sehr viel und wurde deshalb von ihren Brüdern gehänselt. „Ich weinte viel. Ich weinte so viel, daß mein Vater mehrmals in der Woche im Hotel schlafen mußte, um seinen verlorenen Schlaf aufzuholen, damit er arbeiten konnte.“[1]  

Annette beschreibt sich selbst als leichtgläubig; sie war empfindsam, glaubte an Feen und Zauberer und ihre Brüder lachten sie deshalb aus. Sie war häufig krank, schmächtig und blass und musste zum Essen gezwungen werden. 

„Meine Mahlzeiten dauerten endlos lang. „Iis, iis!“ rief meine Mutter anstatt „iß“, was sie nicht richtig aussprechen konnte. Sie versuchte, mir den Löffel zwischen die zusammengepressten Zähne zu schieben. […] Die Augen voller Tränen, hätte ich am liebsten ein Loch in die dicke Tischplatte gebohrt, um die blutigen Leberstücke darin verschwinden zu lassen, die ich hinunterschlucken sollte. „Du wirst es noch bereuen“, sagte meine Mutter, „wer weiß, ob du nicht eines Tages hungern mußt.“[2]

Sie beschreibt aber auch viele Szenen, in denen sie Spaß beim Spielen mit den Kindern aus der Nachbarschaft hatte. Gute Freundinnen und Freunde zu haben, war immer sehr wichtig für sie. Annettes Eltern arbeiteten beide viel an der Nähmaschine, so dass sie wenig Zeit für die Kinder hatten. Annette liebte ihre Eltern sehr, sie suchte oft die Nähe ihres Vaters, wollte bei ihm sein.  „Meinen Vater liebte ich über alles. Immer wollte ich auf seinem Schoß sitzen, in seinen Armen getragen werden. Auf seinen Schultern reiten, wenn wir spazierengingen. Ich mochte mich nicht von ihm trennen.“[3] Ihre Mutter beschreibt sie als fröhliche und lebenslustige Frau, mit der sie besonders gerne zum Einkaufen ging.  „Sie besuchte die Nachbarn, brachte gern selbstgebackenen Kuchen, Obst und Kleider als Geschenk mit. Das ganze Viertel kannte und grüßte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie war schön, die schwarzen Haare gelockt, ihre Augen braun und lebhaft, ihr Körper blühend, die Brust üppig. Sie war kokett, liebte elegante Kleider und Schmuck.“[4]Jeden Samstagabend gingen die Eltern ins Kino, die Kinder blieben derweil zu Hause. Die Mutter erzählte ihnen am nächsten Tag den Film, ahmte die Stimmen der  Schauspieler*innen nach, und sang die Melodien vor, die ihr im Film besonders gut gefallen hatten. Annette beschreibt aber auch Alltagssituationen, in denen sie und ihre Brüder von den Eltern geschlagen wurden.

„Für Ordnung im Haus sorgte meine Mutter mit dem Tschepaske, einem platten Gerät aus Flechtwerk, mit dem Decken und Läufer ausgeklopft wurden, die man dazu übers Fensterbrett hängte. Sie benutzte ihn ebenso ausgiebig, um uns zu verhauen. Der Teppichklopfer hing für alle sichtbar am Nagel an einer Wand des Eßzimmers. […] Vor dem Tschepaske hatten wir große Furcht, meine Mutter gebrauchte ihn häufig und heftig. Henri versteckte ihn in der Hoffnung, sie werde ihn nie wieder finden […]. Wenn meine Mutter uns dann bestrafen wollte, suchte sie den Tschepaske in der ganzen Wohnung, und wo sie dabei auf einen von uns traf, verteilte sie gepfefferte Ohrfeigen.“[1]   

2. Der Krieg, 1940-1942

Das zweite Kapitel beschreibt die ersten Kriegsjahre. Annette war sechs Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Sie beschreibt die Unruhe in den Straßen von Paris, bei denen sie und ihre Brüder Furcht empfanden. Sie sahen Menschen, die eilig mit Gasmasken durch die Straßen rannten. Kurz darauf erfolgte die Anordnung, dass kinderreiche Familien Paris verlassen sollten. Die Familie packte hastig ihre Sachen, fuhr zum Bahnhof und traf dort auf viele Menschen, die auf ihren Koffern sassen oder in Decken gehüllt auf dem Boden lagen. Auf den Bahnsteigen wurde geschubst, gedrängelt und geschrieen, jeder wollte einen Platz im überfüllten Zug ergattern. Die Fahrt endete in Saint-Bié, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Paris. Die Familie wohnte dort in einem Pfarrhaus. Der Vater fuhr nach Paris, um sich zur Armee zu melden, da er gegen die deutschen Nazis kämpfen wollte. Die Musterungskommission lehnte ihn jedoch ab und so kehrte er zurück nach Saint-Bié zur Familie. Annettes Mutter fand Arbeit als Zimmermädchen in einem Schloss in der Nähe. Durch ihre ausgelassene und fröhliche Art war sie im Dorf sehr beliebt und fand schnell Freundinnen. Annette erinnert sich, dass sie sich in diesem Jahr umbringen wollte, denn sie fühlte sich von ihrer Mutter ungerecht behandelt und vernachlässigt. Sie band sich das Handgelenk ab, bis das Blut aufhörte zu fließen. Die Mutter bemerkte die Schwellung, schnitt das Band durch und verpasste Annette eine Ohrfeige. Kurze Zeit später zogen deutsche Soldaten in Saint-Bié ein, die den Kindern Süßigkeiten schenkten. 

1940 zog Familie Muller zurück nach Paris, denn die Deutschen begannen damit, die Häuser der Evakuierten und Flüchtlinge zu beschlagnahmen und sich dort einzuquartieren. Annette besuchte in Paris eine Schule und hatte viele Freundinnen, sie spielten nachmittags zusammen und verkleideten sich als feine Damen. Annettes Vater hatte seine Arbeit verloren, und die Familie musste zeitweise hungern. Es gab nur  wenige Lebensmittel zu kaufen, noch dazu zu sehr hohen Preisen. 1941 arbeitete der Vater als Holzfäller in der Umgebung von Paris. Er bekam nur alle 14 Tage frei, so dass er selten zu Hause war. Annettes Mutter erkrankte in dieser Zeit.

„Meine Mutter war oft in düsterer Stimmung und verschlossen. Schon wenn ich früh aufwachte, höre ich, wie sie mit Hustenanfällen einer nicht heilen wollenden Bronchitis kämpfte. Es war kalt. Mama lehnte sich an den lauen Ofen. Eines Abends holte Henri eine Decke und wollte sie ihr um die Schultern legen. Sie stieß ihn beiseite: „Laß mich in Frieden, ich bin nicht krank.“[1]

Ein Brief aus Polen erreichte die Familie mit der Nachricht, dass dort Tausende von Juden in Ghettos eingesperrt worden waren, wo sie verhungerten oder an Typhus starben. Auch Verwandte der Mullers waren umgekommen. Wenig später wurde Annettes Vater bei einer Razzia in Paris verhaftet und in ein Lager gesperrt. Er versteckte sich jedoch, als die anderen Männer des Lagers auf einen Lastwagen verfrachtet wurden, um zum Arbeitseinsatz zu fahren. Als das Lager menschenleer war, floh er und kehrte, völlig ausgezehrt und erschöpft, zur Familie zurück. Es folgten erste Bombenangriffe und Fliegeralarme, deren Sirenenton Annette Angst machte.  „Sobald ich den gellenden Sirenenton hörte, packte mich die Angst im Bauch – ich bekam Durchfall. Das ganze Haus war in heller Aufregung, alle beeilten sich, hinunter in den Keller zu kommen. Ich saß derweil beim Sirenengeheul bleich und mit Krämpfen auf dem Klo.“[2] 1941 durften sie und ihre Brüder Ferien in einem Gasthaus an der Seine machen; diesen Aufenhalt erlebte Annette als sehr glücklich. Sie schreibt: 

„Die Wirtin hieß Annette wie ich und wollte, daß wir sie Tata Annette nannten. Wir halfen ihr, den vielen Schiffern, die an der Theke saßen, Getränke auszuschenken. Sie gab uns mit Knoblauch zubereitete Schnecken zu essen. […] Tata Annette hatte ein Schiff im Garten, das kieloben lag. Darin spielten wir, dachten uns phantastische Abenteuer von Korsaren und Piraten aus. […] Wir waren glücklich.“[3]Wieder in Paris bemerkte Annette, dass sich der Druck auf die jüdischen Menschen verstärkt hatte. Als Familie Muller nach Bobigny fuhr, um dort Freunde, ebenfalls polnische Juden, zu besuchen, sah Annette die riesigen, schwarzen, bedrohlichen Türme von Drancy. Drancy, so beschreibt Annette, war in unseren Ohren ein dreckiges, abstoßendes und entsetzliches Wort. Jeder wusste, dass viele Juden dort verschwanden und nicht mehr zurückkehrten. 

„Ich konnte nicht glauben, daß Drancy eine normale französische Stadt war, in der Umgebung von Paris, wo die Menschen ganz normal lebten. Ich konnte nicht ahnen, daß man uns, Michel und mich, ein paar Monate später dort einsperren würde. Ich hatte einfach Angst. So klein wir waren, fühlte ich doch, daß uns das betraf. Jude sein, was hieß das für uns?“[1]

Im Juni des Jahres 1942 wurden die Juden verpflichtet, den sechszackigen gelben Stern (Judenstern) an ihrer Kleidung zu tragen. Annette wurde nun in der Schule von den anderen Kindern ausgegrenzt und der Kontakt zu ihnen brach ab. 

„Im Klassenzimmer richteten sich alle Blicke auf mich. Hinten sah ich Manuela, ein Mädchen, das in einem feineren Viertel wohnte als wir, wie sie versuchte, ihren Stern zu verstecken. Manuela hatte kaum Freundinnen. […] Manuela war also auch Jüdin. Es war eine Entdeckung. Die Lehrerin sagte: „Zwei eurer Kameradinnen tragen einen Stern. Seid lieb zueinander. Nichts darf sich zwischen ihnen und euch ändern.“ Trotzdem gab es sofort eine Schranke, eine Ausgrenzung.“[1]

3. Die Razzia am 16.Juli 1942

Im dritten Kapitel beschreibt Annette die Nacht der Razzia und den sich anschließenden Leidensweg durch die Lager Beaune-la-Rolande und Drancy. Diese Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal der internierten jüdischen Kinder, von denen 11.000 aus Frankreich nach Auschwitz deportiert wurden. Keines der deportierten Kinder überlebte. Annette, ihr Vater sowie ihre Brüder wurden durch ganz verschiedene, glückliche Umstände vor der Deportation gerettet; im Lager Beaune-la-Rolande wurde Annette und ein Bruder von der Mutter getrennt und die zurückgebliebene Mutter verstarb wenig später in diesem Lager.

3.1 Die Wannsee-Konferenz

Die Razzia des Velodrome d´Hiver ging auf die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 zurück, als in der Villa am großen Wannsee in Berlin Vertreter der Ministerialbürokratie, von SD und SS über die organisatorische Umsetzung der 

Endlösung der Judenfrage“ entschieden.[1] Es war die Rede davon, „im Osten“ Arbeitskolonnen unter Trennung der Geschlechter einzusetzen, was eine „natürliche“ Dezimierung der Menschen durch Zwangsarbeit nahe legte. Das Original des Protokolls, das sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin befindet, gibt Auskunft über die angestrebte Verfahrensweise.[2]

Die auf dieser Konferenz beschlossene „Endlösung“ machte den Weg frei für die Deportation der europäischen Juden in die nationalsozialistischen Vernichtungslager, die zumeist im sogenannten Generalgouvernement gebaut worden waren. Beauftragt mit der Umsetzung der Deportationen war der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Obergruppenführer Heydrich. Das Protokoll selbst lässt nur implizite Rückschlüsse auf die bevorstehenden Handlungen und Schritte zu, es ist dem Protokoll auch nicht zu entnehmen, was genau besprochen wurde. Doch Folgendes kam beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 zu Tage:

„Man spricht völlig offen über die verschiedenen Techniken des Massenmordes, wie Eichmann später in Jerusalem bezeugen wird. Aber selbst die bewusst verschleiernden Formulierungen des Protokolls, das mehrfach umgeschrieben wird, sind verräterisch und enthüllen dem aufmerksamen Leser ihre furchtbare Wahrheit.“[3]

3.2 Die Razzia des Velodrome d’Hiver

Im Zuge der Umsetzung der am 20. Januar 1942 in Berlin beschlossenen Maßnahmen fand am 16. und 17. Juli 1942 in Paris die größte Razzia unter deutscher Besatzung statt. Angeordnet wurde das Vorgehen von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der die Deportationskonvois koordinierte. In Paris wurde die Umsetzung von SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, Leiter des „Judenreferats“ beim SD, geplant und koordiniert. Die praktische Umsetzung erfolgte durch die deutsche Polizei unter Mithilfe von 9.000 französischen Polizisten.[1] Bei der Razzia am Morgen des 16. Juli wurden 12.884 Juden festgenommen. Annette schildert das Ereignis mit folgenden Worten:„Am Abend gingen mein Vater und der von Rachel zu Madame Fossier an der Place de Guignier, um sich zu verstecken: Rachel kam mit zu uns. Es gab ein sehr gutes Abendbrot. Kartoffelbrei mit Blutwurst. […] Wir spürten, daß es ein bedeutsamer Abend war, wie ein Festtagsabend, nur dass mein und Rachels Papa nicht dabei waren. Ich freute mich, daß Rachel bei uns übernachten durfte. […] Plötzlich hörte ich es furchtbar gegen unsere Wohnungstür schlagen. Wir fuhren mit klopfendem Herzen hoch. Die Schläge donnerten gegen die Tür und hallten durchs ganze Haus. Wie das krachte, in meinem herzen, in meinem Kopf. Ich zitterte am ganzen Leib. Zwei Männer traten ins Zimmer, große Männer in beigefarbenen Regenmänteln. „Schnell, zieht euch an“, befahlen sie. „Ihr müsst mitkommen.“ [1]

Betrachtet man die Listen mit den Namen der festgenommenen Personen (4.051 Kinder, 5.802 Frauen, 3.031 Männer), so fällt der geringe Anteil von Männern auf. Da wenige Tage vor der Razzia die Identitätsdokumente von staatenlosen Männern polizeilich überprüft worden waren, kursierte das Gerücht, dass insbesondere jüdische Männer ohne französischen Pass von Festnahmen bedroht seien. Aufgrund von Vorwarnungen hatten viele Männer und Jugendliche am Abend vor der Razzia ihr Zuhause verlassen und hielten sich versteckt. Der Historiker Ahlrich Meyer erklärt den Umstand folgendermaßen:

„Es war kein Zufall, daß überwiegend Männer diesen Schritt wagten, die ihre Angehörigen zurückließen, weil sie davon ausgingen, daß man bislang keine Frauen und Kinder verhaftet hatte. Als die Deutschen dies änderten, gerieten die arglos in ihren Wohnungen gebliebenen Familienmitglieder zuerst in die Falle.“[1]

Die Festgenommenen, meist Frauen und Kinder, durften nur eine Decke, zwei Oberteile und ein Paar Schuhe mitnehmen. Viele Familienangehörige, die im Zuge dieser Razzia getrennt wurden, sollten sich nie wiedersehen. Mit Autobussen wurden die festgenommenen Personen entweder auf direktem Wege zum Lager Drancy gebracht oder zum provisorischen Gefängnis im Vélodrome d´Hiver. Das überdachte Stadion im XV. Arrondissement von Paris war 1909 für den Radsport im Winter erbaut worden (Vélodrome d´Hiver); 1959 wurde es wegen Baufälligkeit abgerissen. Im Juli 1942 harrten hier über 7.000 Menschen fünf Tage lang aus, ohne Nahrung und mit einer minimalen Trinkwasserversorgung. Fluchtversuche wurden mit sofortiger Exekution bestraft; einige Gefangene begingen Selbstmord.[1] Annette beschreibt die Zustände im Velodrome mit folgenden Worten:

„Wir hockten auf den ansteigenden Bankreihen, dicht an dicht mit anderen Leuten, den Kopf gegen Bündel oder Koffer gelehnt. Unten, auf der großen Rennbahn, sah man Boxen und ringsherum Leute, die gestikulierten. Man hörte ein Stimmengetöse, wie losgelöst von allem, und sah diese menschliche Flut auf den Zuschauerrängen in unaufhörlicher chaotischer Bewegung. Inmitten des verworrenen Lärms rief man durch Lautsprecher den ganzen Tag Namen aus. Es hieß, da bedeute die sofortige Freilassung. […] Michel und ich hatten Durst. Wir wollten uns zu den Toiletten durchschlängeln. Es war kein Durchkommen zu den Außenanlagen, und wie alle anderen mußten wir uns an Ort und Stelle erleichtern. Überall war hingemacht worden. Ich hatte Kopfschmerzen, alles drehte sich, das Getöse, die großen Hängelampen, die Lautsprecher, der Gestank, die erdrückende Hitze.“[1]

Ahlrich Meyer beschreibt, wie die im Vélodrome d´Hiver gefangen gehaltenen Menschen „beginnend mit dem Transport Nr. 7 vom 19. Juli 1942 nach Auschwitz gebracht“[2] wurden. Dort waren bereits die Gaskammern in Betrieb genommen worden. Im Jahre 1993 wurde der 16. Juli als nationaler Gedenktag in Frankreich eingeführt, um an die Geschehnisse der Razzia des Vél´d´Hiv zu erinnern.[3] Heute ist dieser Tag „vielleicht das symbolreichste Datum in der Erinnerung an die Vichy-Periode“.[4]

3.3 Das Lager Beaune-la-Rolande

Vom Vél´d´Hiv wurden Annette, ihr kleiner Bruder und die Mutter mit Lastwagen in das südlich von Paris (Region Centre-Val de Loire) gelegene Lager Beaune-la-Rolande gebracht. Annette erinnert sich:

„Das Lager war mit dickem Stacheldraht umzäunt. In Türmen an den vier Ecken wachten Tag und Nacht Gendarmen mit angelegtem Gewehr. Jenseits sah man den Kirchturm des nahen Dorfes. Es waren ungefähr zwanzig Holzbaracken. Vor manchen sah man schmale Zementstreifen mit Löchern darin. Die Latrinen. Tagsüber hockten die Leute dort mit heruntergelassenen Hosen und machten ihr Geschäft vor aller Augen. Wir hatten Angst hinzugehen. Dort wimmelte es von großen, weißen Würmern.“[1]

Tatsächlich bestand das Lager aus 14 freistehenden Baracken, die 1939 erbaut worden waren, um deutsche Kriegsgefangene dort unterzubringen. Später wurde das Lager als Gefängnis für französische Kriegsgefangene vor dem Abtransport nach Deutschland genutzt. Das Lager stand sowohl unter deutscher Aufsicht wie auch unter Aufsicht der Präfektur von Loire.[2]

Nach einigen Tagen Aufenthalt im Lager, „sprach sich herum, dass Frauen und Kinder über zwölf nach Osten in ein Arbeitslager gebracht werden würden. Die kleineren Kinder kämen später nach.“[1] Tatsächlich wurde nun Annettes Mutter von ihren Kindern getrennt. Ahlrich Meyer fasst die historischen Ereignisse folgendermaßen zusammen:

„Das Judenreferat ließ die bei den Razzien in Paris am 16./17. Juli verhafteten Mütter und Kinder, die unter katastrophalen Bedingungen tagelang im Pariser Vélodrome d´Hiver, einer Radrennbahn, festgehalten worden waren, in die Lager Pithiviers und Beaune-la-Rolande bringen, von wo die Mütter deportiert wurden, währen Dannecker und Röthke gleichzeitig im Reichssicherheitshauptamt wiederholt auf den Abtransport der zurückbleibenden Kinder drängten.“[2]

Annettes Mutter bat die Lagerchefin vergeblich, ihre Tochter mitnehmen zu dürfen, während sie ihren noch jüngeren Sohn der Obhut einer zurückbleibenden Gefangenen anvertrauen wollte. Annette schildert die schmerzlichen Trennungsszenen:

„Die Kinder klammerten sich an ihre Mütter, zerrten an sie an den Kleidern. Mit Gewehrkolben, Gummiknüppeln, mit kalten Wasserspritzen versuchte man, uns auseinanderzutreiben. Es war ein wildes Gedränge, Geschrei, Weinen, Brüllen vor Schmerz. Die Gendarmen rissen den Frauen die Kleider herunter, suchten nach Schmuck und Geld. Dann auf einmal eine große Stille. Auf der einen Seite Hunderte Kinder, auf der anderen Seite die Mütter und die Größeren. Dazwischen die Gendarmen, die schrien. Michel und ich hielten uns an der Hand, wie erstarrt, Tränen trockneten auf unseren Gesichtern, wir sahen auf Mama, die unbeweglich in der ersten Reihe der Gruppe uns gegenüber stand. Von weitem sah ich ihr Lächeln, ihren liebevollen Blick. Ihre Hand deutete ein Winken an. Die Gruppe wurde weggeführt, wir waren allein.[1]

Die Geschwister wurden, vermutlich mit dem Transport Nr. 20, ins Lager Drancy „weiterverfrachtet“[2], während der Weg älteren Kinder, die in Beaune-la-Rolande gefangen gehaltener wurden, wenig später mit einem Transport ohne weitere Zwischenstation in Auschwitz enden sollte:

„[…] und am 14. August 1942 wurden mit dem Transport Nr. 19 erstmals 80 jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren aus Frankreich nach Auschwitz verschleppt und dort sofort ermordet. In dem darauffolgenden Todestransport vom 17. August befanden sich über 500 Kinder, davon 339 Mädchen und Jungen unter zehn Jahren.[3]

3.4. Das Lager Drancy

Die Internierung im Lager Drancy schildert Annette mit folgenden Worten:

„Das Lager Drancy war von einem Gitterzaun umschlossen, hinter dem bewaffnete Polizisten standen. Die Gebäude waren halbfertig, schwerfällig, grau, mehrere Stockwerke mit vielen Fenstern, die aussahen wie schwarze Löcher. Um die Gebäude herum lief ein Weg mit Säulen, die ein Zementdach trugen. Die unheimlichen, hohen Türme, an denen man das Lager aus der Entfernung erkennen konnte, standen weiter weg zur linken. Von dort heulten die Sirenen, um vor Bombenangriffen zu warnen. Bei unserer Ankunft mußten alle Kinder in der Mitte des Hofes antreten. Wir bekamen eine braune Flüssigkeit, Wasser mit Schokoladengeschmack. Das tat gut. Hoffnung kehrte wieder. Wir würden es gut haben im neuen Lager. Man würde sich um uns kümmern.“[1]

Die beschriebenen Gebäude waren Teil eines riesigen Gebäudekomplexes nordöstlich von Paris (Département Seine-Saint-Denis), der zwischen 1932 und 1936 errichtet worden war. die Cité de la Muette galt zu dieser Zeit als eines der modernsten Architekturprojekte. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Betonbauten als Wohnsiedlung genutzt worden. Ab 1941 wurden die Gebäude das Sammellager für die staatenlosen Jüdinnen und Juden genutzt, die bei den Razzien festgenommen worden waren und später deportiert werden sollten.[2] Ahlrich Meyer fasst die Beschaffenheit des Lagers folgendermaßen zusammen:    

„Drancy – eine ursprünglich für Sozialwohnungen geplante, unfertige Anlage aus fünfstöckigen Betonbauten am Rande der französischen Hauptstadt und bislang von den deutschen zur Internierung von Kriegsgefangenen genutzt – war damit die das dritte und größte Haftlager für Juden in der Nordzone“.[3]         

Das Lager war U-förmig angelegt, 200 x 400 m groß. An den Ecken des Gebäudeskomplexes befanden sich Türme, die in der Zeit der Internierungen als Wachtürme fungierten und umgangssprachlich als „Judentürme“ bezeichnet wurden.[1] Auch Annette kannte diese Bezeichnung und erinnert sich, wie sie mit der Familie zu Freunden in Bobigny an den Türmen vorbei fuhr:

„Bei unseren letzten Besuchen in Bobigny, wenn wir nach der Busfahrt den langen schmalen Weg einschlugen, der zu dem kleinen Haus führte, sahen wir an einer Wegkehre von weitem riesige, schwarze Türme in den blauen Himmel ragen. Es waren die Türme von Drancy. Die Judentürme. Jeder wußte es, man redete mit verhaltener Stimme darüber. Drancy-les-tours, Drancy-le-trou-aux-juifs, wo sich unaussprechliche, grausame Dinge zutrugen. Erstarrt, entsetzen im Bauch, wandten wir den Blick ab und gingen schnell weiter.“[2]

Zwischen dem 21. August 1941 und dem 17. August 1944 passierten 70.000 Menschen dieses Lager, das vom 20. August 1941 bis 16. Juli 1942 unter dem Kommando der französischen Polizei stand und von SS-Obersturmführers Dannecker als Judenbeauftragter des besetzten Frankreichs verwaltet wurde. In der zweiten Periode – vom 16. Juli 1942 bis 2. Juli 1943 – oblag die Aufsicht seinem Nachfolger SS-Obersturmführer Heinz Röthke, danach übernahm bis zum 17. August 1944 Alois Brunner mit der Gestapo das Kommando.[1] Die Lebensbedingungen waren durch einen permanenten Nahrungsmangel gekennzeichnet. Bis November 1942 erhielten die Gefangenen täglich 600-800 Kalorien, nach der Übernahme des Kommandos durch die Gestapo verschlechterten sich die Zustände weiter. Es herrschten mangelhafte hygienische Zustände und eine massive Trinkwasserverschmutzung, so dass eine Epidemie ausbrach.[2]

Das Lager wurde zwischen dem 17. und dem 22. August 1944 befreit. Alois Brunner hatte bereits zuvor bei der Befreiung von Paris durch die Resistance die Flucht ergriffen. Bis zum 31. Juli 1944, als sich bereits alliierte Truppen Paris näherten, hatten noch in großem Umfang eilig durchgeführte Deportationen stattgefunden.[3] Bei der Befreiung des Lagers befanden sich noch 1.386 Internierte, darunter 64 Kinder, in den Gebäuden.[4] Auf Grund seiner Funktion als Durchgangsstation beim Abtransport nach Auschwitz wurde das Lager als „Vorzimmer des Todes“ bezeichnet.[5]

3.5. Das Lamarck-Asyl

Der Aufenthalt in Drancy dauerte für Annette und ihren Bruder Michel nur wenige Stunden; kurz nach ihrer Ankunft wurden sie bereits von der Polizei in ein Gebäude in der Pariser Innenstadt, im Viertel Montmartre, gebracht. Während sich die Kinder zunächst in Sicherheit glaubten und auf eine baldige Heimkehr hofften, erkannten sie bald, dass sie lediglich in ein anderes Lager gebracht worden waren. Es handelte sich um das sogenannten Lamarck-Asyl:

„Jeden Tag trafen im Asyl neue Ladungen von schmutzigen, skelettdürren, pickeligen Kindern ein, die sofort in die Quarantäne kamen, in überfüllte Schlafsäle, bevor sie sich unter die anderen mischten. Sie kamen von Drancy. Das Lamarck-Asyl war eine Drehscheibe der Kinderdeportation. Von ein paar Überlebenden wie Michel und mir abgesehen, kamen alle Kinder und ebenso die Erwachsenen des Asyls nach Auschwitz.“[1]


Durch die Hilfe einer Nonne namens Clothilde wurden Annette und ihr Bruder Michel schließlich in einem katholischen Waisenhaus untergebracht. Annette schildert in ihrer Erzählung, dass der Vater sich offensichtlich mit Erfolg darum bemüht hatte, die Kinder vor dem endgültigen Abtransport nach Auschwitz zu bewahren:

„Mein Vater versuchte, was er konnte, um uns zu befreien, und klopfte an alle Türen. Man nannte ihn einen einflussreichen Juden aus Galizien, der mit den Deutschen und der Polizei des Vichy-Regimes kollaborierte: Israelowitsch. Es gelang ihm, den Mann im Büro der Union générale des israelites de France, des Generalverbands der Juden in Frankreich, zu sprechen. […] Israelowitsch ließ sich erweichen. Er intervenierte bei der Gestapo. Leider war es für meine Mutter schon zu spät.“[1]

Annette schließt ihre Erzählung mit den Worten ab:

„Wir sagten Papa auf Wiedersehen. Michel und ich wurden im katholischen Waisenhaus von Neuilly-sur-Seine untergebracht. Henri und Jean kamen zu uns. Schwester Clothilde hatte uns ermahnt, künftig über unsere Vergangenheit und unsere wahre Identität zu schweigen. Wir waren keine Juden mehr. Nichts war geschehen.“[2]

4. Anerkennung

Das durch die nationalsozialistische Herrschaft geprägte Leben der Familie Muller und das vermeintlich vorbestimmte Ende nimmt für fünf der sechs Familienmitglieder eine glückliche Wende. Sie überlebten die Verfolgung, waren jedoch von den traumatischen Erfahrungen und dem Verlust der geliebten Mutter gezeichnet. Das Überleben stellt auch eher eine Ausnahme dar; die Endstation für über 11.000 jüdische Kinder hieß Auschwitz. Diese Kinder wurden – wie alle weiteren Opfer des nationalsozialistischen Regimes – auf den Schienen zunächst der französischen SNCF, dann der belgischen SNCB und schließlich der Reichsbahn durch Deutschland in die nationalsozialistischen Vernichtungs- und Arbeitslager im deutsch besetzten Generalgouvernement befördert.

Eine besondere Aufmerksamkeit erhielt dieser historische Sachverhalt durch die 1979 gegründete Vereinigung „FFDJF“ („Fils et Filles des Déportés Juifs de France“), die sich um Serge und Beate Klarsfeld zusammengefunden hatte. Die Organisation setzte sich auch für die Belange der hinterbliebenen Kinder jüdischer Deportierter in Frankreich ein und vertrat deren Interessen. 

Quellenverzeichnis

Meyer, Ahlrich: Täter im Verhör – Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940-1944. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2005.

Muller, Annette: Die Razzia. Erzählung. Aus dem Französischen von Christel Gersch. (Titel der Originalausgabe 1991: La petite fille du Vel’ d’ Hiv’). Nicolaische Verlagsbuchhandlung: Berlin 1998. 

Rousso, Henry: Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich – Überlegungen zum Papon-Prozess, in: Frei, Norbert/van Laak, Dirk/Stolleis, Michael (Hg.): Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. CH Beck Verlag: München 2000, S. 141-163.

Weitere genutzte Webseiten:

Verfasserinnen:
Claudia Lermen, Yvonne Meßmann, Dr. Anne Klein 
(Seminar in der Pädagog*innen- und Lehrer*innenbildung, 
Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln, 2008/2024)